Eine Erkenntnis der Psychologie ist, dass auch unsere Überzeugungen zu ethisch-moralischen Themen größtenteils vom “schnellen Denken” beeinflusst werden. Menschen neigen dazu, durch Intuitionen und Emotionen geleitet schnell zu entscheiden, was moralisch “richtig” und “falsch” ist, und erst danach durch bewusstes, rationalisierendes Denken Gründe zu finden, die ihre anfänglichen intuitiven Reaktionen unterstützen.

Das muss nicht unbedingt etwas Schlechtes sein! Schließlich erfüllen Intuitionen und Emotionen wichtige Funktionen, und ohne sie wären Menschen kaum motiviert, Zeit und Energie aufzuwenden, um sich für diverse Probleme in ihren sozialen Gruppen zu engagieren.

Durch eine Vielzahl von Studien stellten der Sozialpsychologe Jonathan Haidt und Kolleg:innen fest, dass Menschen egal welcher Herkunft eine Reihe von moralischen Intuitionen gemeinsam haben.

Demnach haben Menschen ähnliche Fähigkeiten, auf bestimmte soziale Situationen emotional und intuitiv zu reagieren. Jede Kultur oder Gemeinschaft bildet jedoch ihr eigenes „moralisches Grundgerüst“ aus diesen moralischen Intuitionen, geprägt durch (oder gar als Anpassung an) geschichtliche und sozial-ökologische Gegebenheiten. So unterscheiden sich Menschen und Menschengruppen darin, auf welche bestimmten sozialen Reize sie wie stark reagieren. 

Die folgenden sechs moralischen Intuitionen wurden bisher identifiziert: 

Man kann sicherlich noch andere moralische Intuitionen identifizieren, je nachdem wie eng oder weit gefasst man sie definiert. So wurden z.B. auch moralische Intuitionen für „Wahrheit, „Ehrlichkeit“ und „Eigentum“ vorgeschlagen (mehr dazu hier).

Es kann hilfreich sein, sich unsere moralischen Intuitionen wie die verschiedenen Filter eines Klang-Equalizers vorzustellen. In einem bestimmten Kontext oder bei einer moralischen Angelegenheit neigen wir dazu, bestimmte Intuitionen zu verstärken, andere zu reduzieren und sie so zu mischen. Die Art und Weise, wie die moralischen Intuitionen „gemixt“ werden, ist also von Mensch zu Mensch unterschiedlich!

Analogie der "moralischen Geschmacksnerven"

Jonathan Haidt vergleicht die sechs moralischen Intuitionen mit unseren Geschmacksnerven. Diese Analogie kann helfen, den evolutionären Ursprung und die individuelle Entwicklung der moralischen Intuitionen, und die Variation in „moralischen Geschmäckern“ zu verstehen.

„Wir Menschen haben alle die gleichen fünf Geschmacksrezeptoren, aber wir mögen nicht alle die gleichen Nahrungsmittel … Die Tatsache, dass jeder einen Rezeptor für “Süß” hat, kann uns nichts darüber sagen, warum eine Person thailändisches Essen bevorzugt. Es ist das gleiche für das moralische Urteilen. Um zu verstehen, warum Menschen durch moralische Probleme so gespalten sind, können wir mit der Erforschung unseres gemeinsamen evolutionären Erbes beginnen, aber wir müssen auch die Geschichte jeder Kultur und die Sozialisierung der Kindheit jedes Einzelnen in dieser Kultur untersuchen. (…)

In dieser Analogie ist Moral wie Küche: Sie ist eine kulturelle Konstruktion, die von mehr oder weniger zufälligen Gegebenheiten der Umwelt und der Geschichte beeinflusst ist, aber sie ist nicht so flexibel, dass alles möglich ist. Man kann keine Küche auf der Basis von Baumrinde haben, noch kann man eine basierend auf bitterem Geschmack haben. Die Küche von Regionen und Kulturen variiert, aber sie alle müssen den Zungen schmecken, die mit den gleichen fünf Geschmacksrezeptoren ausgestattet sind. Moralische Grundlagen variieren, aber sie alle müssen moralisch-sozialen Köpfen gefallen, die mit den gleichen sechs moralischen “Rezeptoren” ausgestattet sind. “ 

Quelle: Haidt (2012). The righteous mind. Why good people are divided by politics and religion. S. 113, 114, übersetzt aus dem Englischen Original.

Moralische Geschmacksnerven

In dieser Unterrichtseinheit erkunden Schüler:innen die Ursachen und Funktionen unserer moralischen Intuitionen sowie Möglichkeiten, sich flexibel auf sie zu beziehen, indem sie sich mit einer Analogie zu unseren Geschmacksknospen beschäftigen.

Ursachen unserer moralischen Intuitionen

Woher kommen unsere moralischen Intuitionen, und warum haben wir sie? Diese Fragen nach dem warum und woher können wir auf verschiedene Art und Weise beantworten (siehe Tinbergens Fragen): 

Aufgrund unserer Evolutionsgeschichte sind wir Menschen hochsoziale Wesen, und unsere sozialen Intuitionen und Emotionen sind Teil unseres evolutionären Erbes.  Sie halfen unseren Vorfahren,  in ihrer sozialen Umwelt zu navigieren, das Sozialverhalten anderer zu bewerten und gegebenenfalls darauf zu reagieren, und so das Zusammenleben zu regeln. Will uns diese Person böses antun? Geht es meinem Kind gut? Habe ich genug abbekommen? Ist das ungerecht? Ist das Verrat? Gehört dieser Mensch einer gefährlichen Gruppe an? Verhalten sich alle nach den Regeln? Bin ich gut genug für meine Gruppe? Sind die anderen gut genug für unsere Gruppe? Gefährdet jemand das Zusammenleben? Nutzt uns jemand aus? Wer hat Schuld? usw. 

Auch die moralischen Intuitionen erfüllten und erfüllen also wichtige Funktionen für das gesellschaftliche Zusammenleben und Fortbestehen der Gruppe.  Doch sie können, ähnlich wie andere kognitive Verzerrungen, unter bestimmten Bedingungen auch „fehlzünden“ und zu negativen Konsequenzen führen. 

“Gerecht” bedeutet nicht immer das gleiche

Ein Experiment mit Kindern aus drei Kulturen, anhand dessen wir verschiedene Formen von Gerechtigkeitssinn erörtern können. Ausgehend von den Ergebnissen der Experimente diskutieren Schüler:innen anschließend, wie wir die Erkenntnisse für die Schaffung einer gerechteren Gemeinschaft einsetzen können.

In diesem Video werden die moralischen Intuitionen, ihre Funktionen und ihr evolutionärer Ursprung anschaulich dargestellt und zusammengefasst (auf englisch).

Transkript Englisch, Deutsch

Forschung mit Kleinkindern geht der Frage nach, inwieweit ein Sinn für „gut“ und „schlecht“, eine Unterscheidung zwischen „wir“ und „die anderen“ angeboren sind.

Transkript Englisch, Deutsch

Ähnliche Videos:

Gerechtigkeitssinn

Ein Sinn für Gerechtigkeit ist einer unserer menschlichen „moralischen Intuitionen“.  So gut wie alle Menschen, egal welcher Kultur und sozialer Herkunft sie angehören, scheinen einen Gerechtigkeitssinn zu haben, auch wenn sich dieser in ganz unterschiedlichen Situationen bemerkbar macht und unterschiedlich stark ausgeprägt ist. 

Was „gerecht“ erscheint, ist oft vom Kontext, den Betroffenen und der eigenen Rolle in der Situation abhängig – soll zum Beispiel jeder bedingungslos gleich behandelt werden, sollen diejenigen bevorzugt behandelt werden, die es „verdient haben“ indem sie selbst viel beigetragen haben, oder sollen diejenigen bevorzugt behandelt werden, die dies aufgrund ihrer Situation benötigen? Diese Mehrdeutigkeit von „Gerechtigkeit“ führt oft zu Meinungsverschiedenheiten, und so kommt unser Gerechtigkeitssinn bei vielen Auseinandersetzungen im Alltag und in der Gesellschaft zum Tragen. Die sozial-emotionalen Ansätze dieses Gerechtigkeitssinns finden wir auch in anderen Tierarten, welche in Gruppen leben. 

“Gerecht” bedeutet nicht immer das gleiche

Ein Experiment mit Kindern aus drei Kulturen, anhand dessen wir verschiedene Formen von Gerechtigkeitssinn erörtern können. Ausgehend von den Ergebnissen der Experimente diskutieren Schüler:innen anschließend, wie wir die Erkenntnisse für die Schaffung einer gerechteren Gemeinschaft einsetzen können.

"Morality binds and blinds" - Moralität verbindet uns, und macht uns blind!

Unsere sozialen und moralischen Intuitionen scheinen also wichtige Funktionen für das Zusammenleben unserer Vorfahren gespielt zu haben. Gemeinsame Überzeugungen darüber, was „wahr“ und „wichtig“ ist, und welche Verhaltensweisen „normal“ und welche „unnormal“ sind, sorgen dafür, dass Gruppenmitglieder eine gemeinsame Identität entwickeln, ihr Zusammenleben regeln, gemeinsam auf Ziele hinarbeiten, Probleme lösen und sich füreinander einsetzen. So finden sich Menschen auch heute leicht in Gruppen von Gleichgesinnten zusammen, welche allmählich ihre eigenen Sitten, Sprachen, Verhaltensweisen und Regeln entwickeln. 

Die eigene Gruppe, ihre Sitten und ihre Überzeugungen erscheinen dabei als „gut“, „normal“ und „gerechtfertigt“, und unter Umständen als „überlegen“ und moralisch auf der „richtigen“ Seite. Doch die Schattenseite davon ist, dass  Außenstehende um so mehr als „anders“, „schlecht“, „gefährlich“, „ignorant“ und „moralisch verwerflich“ erscheinen können.  Dies ist vor allem dann der Fall, wenn der Eindruck ensteht, dass sie für die eigene Gruppe eine Gefahr darstellen.

In der Psychologie wird diese verzerrte Wahrnehmung und Bewertung der eigenen und der anderen Gruppen Ethnozentrismus genannt. Ethnozentrismus prägt die Geschichte der Menschheit und auch heutige menschliche Gesellschaften.  In Zeiten der Unsicherheit, des Mangels oder der Vernachlässigung sind Menschen besonders anfällig auf Botschaften und Hinweise, dass Außenstehende oder Andersdenkende eine Gefahr darstellen bzw. die Verursacher der wahrgenommenen Probleme sind.

Geistige Verzerrungen und ihre Funktionen

In dieser Unterrichtseinheit lernen die Schüler:innen das Konzept kognitiver Verzerrungen sowie eine Reihe wichtiger kognitiver Verzerrungen kennen, die unser Wohlbefinden und unsere sozialen Interaktionen beeinflussen können, identifizieren ihre Ursachen in der Evolutionsgeschichte, insbesondere ihre Funktionen für das Überleben und überlegen, wie sie mit kognitiven Verzerrungen umgehen können.

Unterrichtsidee: SchülerInnen suchen in den Medien (oder in historischen Quellen) nach Texten oder Bildern, in welchen der Autor diese menschliche Eigenschaft ausnutzen und Angst oder Aggression gegenüber einer bestimmten Gruppe schüren will (politische Reden, Blog Posts, Demo-Schilder, etc.). Welche Worte, Phrasen oder Bilder werden verwendet? Welche Wirkungen werden bei den Hörern/Lesern/Zuschauern erzeugt?

Perspektivwechsel üben

Es fühlt sich also meist für uns sicher und angenehm an, mit Menschen zusammen zu sein, die genau so denken, sprechen, ähnlich aussehen oder sich ähnlich kleiden, die gleichen Vorlieben haben oder aus der gleichen „Szene“ kommen wie wir. Die meisten Menschen haben in der Regel ein großes Bedürfnis für solche sozialen Beziehungen und für Gruppenzugehörigkeit – auch dies ist Teil unserer evolutionären Erbes. 

Doch ab und zu müssen wir diese Sicherheitszone verlassen können, insbesondere wenn in der heutigen Gesellschaft Menschen unterschiedlichster Herkünfte zusammen leben, Herausforderungen angehen und gemeinsam Entscheidungen treffen müssen.

Die Ursprünge und Hintergründe unserer eigenen Meinungen und von den Meinungen anderer zu verstehen, kann helfen, die Perspektive anderer einzunehmen und einen konstruktiveren Dialog fördern.

Wahre Geschichten …

In dieser Einheit lernen Schüler:innen die Geschichten von Menschen kennen, die eine radikale Bewegung verlassen haben. Schüler:innen erstellen eine Präsentation zu einer Person und ihrer Geschichte. Anschließend trägt die Klasse die Eindrücke aller Geschichten zusammen, vergleicht und diskutiert ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede und überlegt, wie wir sicherstellen können, dass Menschen nicht radikalen Überzeugungen erliegen oder sich radikalen Gruppen anschließen.

Diskussionsführer zu ethischen Themen

Ein Diskussionsführer und Arbeitsblätter für die Anwendung des Verständnisses um moralische Intuitionen in Diskussionen über ethisch-moralische Themen im Unterricht