Für unsere Vorfahren seit Homo erectus hing das Überleben und die Aufziehung von Nachkommen immer mehr von der Gruppe ab: NahrungsbeschaffungKindererziehungHerstellung von Werkzeugen und die Vermittlung des Wissens an Nachkommen erforderten Kooperation und Arbeitsteilung, und eine Gruppengröße, die die Erfüllung all dieser Aufgaben durch ihre Mitglieder ermöglichte. Jeder hing vom anderen ab, und so saßen alle „in einem Boot“.

Diejenigen Gruppen, die besser in der Zusammenarbeit, Arbeitsteilung und in der Organisation des Zusammenlebens waren, hatten bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen als andere Gruppen.

Geschätzte Gruppengrößen verschiedener Hominidenarten im Laufe unserer Evolutionsgeschichte. Bildquelle: Mark Maslin, The conversation

Solch eine Situation des Gruppenlebens bringt neue Herausforderungen mit sich: beschaffene Ressourcen müssen in irgendeiner Weise an alle Mitglieder verteilt werden, so dass jeder so viel bekommt wie nötig, auch wenn er an der Beschaffung der Ressource gar nicht beteiligt war. Es muss verhindert werden, dass Einzelne die Kooperation ausnutzen und dadurch die Gruppe gefährden. Konflikte sollten möglichst gar nicht erst aufkommen, und wenn sie auftauchen, müssen sie möglichst schnell und effizient gelöst werden, so dass sie die Gruppe nicht gefährden. Diejenigen Gruppen, in denen Ressourcen auf effizientere Weise proportional an alle verteilt wurden, in denen weniger Konflikte auftraten, oder in denen Konflikte auf effizientere Weise gelöst wurden, hatten bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen als andere Gruppen.

Unter diesen Gruppen hatten wiederum diejenigen weniger Konflikte oder konnten diese effizienter lösen, in denen Mitglieder bestimmte soziale Fähigkeiten an den Tag legten, und in denen bestimmte soziale Normen das Verhalten der Mitglieder beeinflussten.

Anthropologen und Verhaltensforscher vermuten, dass sich unter diesen sozialen Bedingungen viele Ansätze der heute beobachtbaren sozialen Verhaltensweisen des Menschen ausgebildet haben: Soziale Emotionen und moralische Intuitionen wie Empathie, Mitleid, Gerechtigkeitssinn, Empörung, Neid, Schuld und Scham, Motivation zum Teilen von Ressourcen und Informationen und zur gegenseitigen Hilfe, eine Tendenz, die Mehrheit der Gruppe nachzuahmen und dadurch soziale Normen in einer Gruppe zu etablieren, sowie ein soziales Temperament, welches uns zu sozialen Begegnungen motiviert und uns ein Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit gibt.

Nach Ansicht einiger Anthropologen haben all diese Herausforderungen eines komplexeren Gruppenlebens auch zum Selektionsdruck für ein größeres Gehirn während unserer Evolution beigetragen.

Wenn alle in einem Boot sitzen, ist es für jeden vorteilhaft, wenn alle zusammen arbeiten.
Überall kann man Menschen dabei beobachten, wie sie Spaß an sozialen Begegnungen haben oder es zumindest tolerieren, wenn sie eng beieinander sind. Warum haben wir dieses Sozialverhalten? Quelle: Dustin Eirdosh

Schon im Kleinkindalter haben wir Menschen eine besondere soziale Wahrnehmung: wir können bereits unterscheiden, ob sich jemand „gut“ oder „schlecht“ gegenüber anderen verhält. Und wir bevorzugen diejenigen, die nett zu anderen sind.

So scheint es, dass diese Fähigkeiten angeboren sind bzw. bereits in den ersten Monaten des Lebens ausgebildet werden, noch bevor der Einfluss aus dem sozialen und kulturellem Umfeld unser Verhalten maßgeblich prägt.

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“Gerecht” bedeutet nicht immer das gleiche

Ein Experiment mit Kindern aus drei Kulturen, anhand dessen wir verschiedene Formen von Gerechtigkeitssinn erörtern können. Ausgehend von den Ergebnissen der Experimente diskutieren Schüler:innen anschließend, wie wir die Erkenntnisse für die Schaffung einer gerechteren Gemeinschaft einsetzen können.

Ursache-Wirkungsdiagramm für das Leben in Gruppen

Die Vorfahren der Menschen passten sich an die Umweltbedingungen der Savanne an, indem sie Fähigkeiten für kooperative Nahrungssuche, kooperative Kinderfürsorge sowie für Werkzeugherstellung und -nutzung, entwickelten. All dies erzeugte wiederum einen Seletkionsvorteil für das Leben in ausreichend großen kooperativen Gruppen, in denen diese Arbeiten geteilt werden konnten. Diejenigen Gruppen, die dieses erreichten, mussten wiederum ihre Ressourcen unter allen Mitgliedern aufteilen sowie Konflikte auf effiziente Weise lösen konnten. Dadurch hatten sie einen Selektionsvorteil und ihre Mitglieder würden mehr Nachkommen hinterlassen als die Mitglieder anderer Gruppen, in denen dies nicht so gut gelang. Um ein derartiges Gruppenleben zu ermöglichen, gab es einen Selektionsdruck auf individuelle Merkmale wie ein tolerantes soziales Temperament, soziale Emotionen und Intuitionen sowie Kommunikationsfähigkeiten, die es ermöglichten, Konflikte zu vermeiden oder zu lösen, Ressourcen untereinander zu teilen, sowie soziale Normen zu etablieren. In Gruppen, in denen sich bestimmte soziale normen für das Teilen von Ressourcen und die Lösung von Konflikten etablierten, hatten Individuen darüber hinaus höhere Überlebens- und Fortpflanzungschancen als Individuen in anderen Gruppen.

Gene, die in der Ausprägung und Entwicklung all dieser Merkmale involviert sind, würden sich in der Population unserer Vorfahren ausbreiten (diese sind in diesem Ursache-Wirkungsdiagramm nicht abgebildet).

Die Umweltbedingungen der Savanne erforderten Zusammenarbeit. Unter den unterschiedlichen Homininengruppen konnten einige besser zusammenarbeiten als andere, z.B. weil es Unterschiede in ihrem Temperament, Verhalten, oder der Kommunikationsfähigkeit gab, oder weil sich in ihren Gruppen bestimmte Normen und Traditionen etabliert haben, die ein relativ konfliktfreies Zusammenleben bewirkten.

Jäger-und-Sammler Gruppen und egalitäre soziale Organisation

Homo erectus lebte vermutlich bereits in Jäger-und-Sammler-Gruppen, deren soziale Organisation ähnlich der heute noch existierenden Jäger-und-Sammler-Gesellschaften war. Anthropologen sind daher besonders daran interessiert, die Lebensweise dieser heute existierenden Jäger-und-Sammler genauer zu untersuchen, denn sie können uns Rückschlüsse über die Lebensweise unserer vor 2 Mio Jahren lebenden Vorfahren liefern.

Jäger-und-Sammler Gesellschaften zeichnen sich u.a. durch eine egalitäre soziale Organisation aus (egalitär, französisch égalité, von lateinisch aequalitas: „die Gleichheit“), in denen es, anders als in Schimpansengruppen, keine soziale Hierarchie und keine Dominanz durch einen oder wenige Individuen gibt. Wertvolle Ressourcen wie Fleisch werden unter allen in der Gruppe aufgeteilt. Das bedeutet nicht, dass es keine Konflikte oder Versuche einzelner gibt, die Gruppe zu dominieren oder mehr Ressourcen an sich zu reißen! Vielmehr existieren Konfliktlösungsmechanismen, die dafür sorgen, dass derartige Versuche von “Bullies” erfolglos sind und der Gruppe nicht schaden.

Ein Jäger der Mbendjele im Kongo teilt Fleisch für die Mitglieder der Gruppe auf. Bildquelle: Altg20April2nd , CC-SA-BY 4.0

Konflikte werden oft ohne Gewalt durch Drohungen, öffentliche Anprangerungen und Verhandlungen gelöst. Bei wiederholten oder besonders starken Verstößen werden allmählich härtere Strafen veranlasst, wenn nötig bis zum Ausschluss aus der Gruppe (dies bedeutete für unsere Vorfahren den Tod, da das Überleben von der Gruppe abhängig war), oder gar Tötung. Somit wird dominantes oder egoistisches Handeln Einzelner durch Zusammenarbeit der Gruppe unterdrückt oder ausgegrenzt. Ansätze davon gibt es auch unter Schimpansen, wenn zwei oder drei Rangniedere Koalitionen bilden, um gegen einen Ranghöheren überlegen zu sein. Bei Menschen geben u.a. bessere Waffen und Werffähigkeiten der Gruppe eine größere Macht über körperlich stärkere “Alpha-Männchen”. Die soziale Hierarchie, die wir unter Schimpansen finden, wurde also in Jäger-und- Sammler-Gruppen in gewisser Weise “auf den Kopf gestellt” – die Gruppe dominiert über dem Tyrannen und hält ihn in Schach. Dies sicherte das Überleben der gesamten Gruppe.

Leben in Gruppen und Konflikte

Ein Lesetext über die Herausforderungen des Gruppenlebens und wie unterschiedliche Gruppen in der Biologie – darunter auch unsere Vorfahren – Wege gefunden haben, diese Herausforderungen zu lösen.

Literaturangaben

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