Der Physiker Isaac Newton sagte einmal über die Bedeutung seiner wissenschaftlichen Errungenschaften: “Ich konnte nur so weit schauen, weil ich auf dem Rücken von Riesen stand.” Damit meinte er, dass er in bedeutendem Maße auf das Wissen seiner Vorgänger baute, und nur dadurch zu seinen eigenen Erkenntnissen gelangen konnte.

Überlege selbst einmal, wieviele Dinge du in deinem alltäglichen Leben verwendest – wie du wohnst, wie du dich fortbewegst, wie du mit anderen kommunizierst, wie du dich ernährst – und wieviel Wissen du im Laufe deines Lebens angesammelt hastWie einfach wäre es für dich, diese Dinge durch eigenständiges Lernen selbst herzustellen, oder dieses Wissen nur durch eigene Beobachtungen und Erfahrungen zu erwerben?

Selbst die Herstellung eines scheinbar einfachen Dinges wie ein Bleistift wäre für uns ohne weitere kulturelle Technologie unmöglich, oder nur durch einen massiven Zeit- und Energieaufwand zu bewältigen. Selbst etwas scheinbar einfaches wie eine Wolke wäre für uns ohne Zugang zum angesammelten kulturellen Wissen der Generationen vor uns eine merkwürdige Kreatur, die im Himmel wohnt. Womöglich würde unsere eigene Lebenszeit nicht ausreichen, bis wir schließlich einen einzigen Bleistift hergestellt hätten. Sicherlich würden wir aus unseren eigenen alltäglichen Beobachtungen kaum zu der Erkenntnis gelangen, dass Wolken aus Wasserdampf bestehen.

Eine Besonderheit von menschlicher Kultur scheint es also zu sein, dass ein Mensch, der heute geboren wird, viele der für sein Leben wichtigen Technologien oder wichtiges Wissen im Laufe seines Lebens nicht selbst erfinden und durch eigene Erfahrung erwerben könnte. Anhand dieser Tatsache unterscheiden Anthropologen die menschliche Kultur von der anderer Tierarten. Sie nennen diese Form der Kultur kumulative Kultur, aus dem lateinischen cumulare, was so viel wie “ansammeln”, “anhäufen” bedeutet.

Anthropologen vermuten, dass die kumulative Kultur des Menschen ermöglicht wurde, weil in unserer Art eine erhöhte Fähigkeit für soziales Lernen und Lehren, die effektive und genaue Weitergabe von Informationen durch Sprache, sowie eine erhöhte Innovationsfähigkeit vorhanden sind. Die Selektion dieser Fähigkeiten begann womöglich bereits vor ca. 2 Mio Jahren mit Homo erectus. Auch sorgte das Leben in immer größeren Gruppen mit Arbeitsteilung dafür, dass mehr Individuen als Lehrende und „Informationsspeicher“ in der sozialen Umwelt vorhanden waren und Gruppenmitglieder sich auf das Erlernen und Weitergeben von bestimmten kulturellen Eigenschaften spezialisieren konnten. Andererseits wurden Gruppen für ihr Überleben und ihr Fortbestehen zunehmend von ihrer Kultur – Werkzeugen, Wissen, sozialen Normen und Traditionen – abhängig, was wiederum die Selektion von Fähigkeiten für soziales Lernen und Lehren verstärkte.

Andere Tierarten, insbesondere Primaten aber auch Vögel, Fische, Wirbellose, geben zwar auch viele Verhaltensweisen durch soziales Lernen weiter, und sind mehr oder weniger innovationsfähig. In unserer Art wurden diese Fähigkeiten aber besonders geschärft. Dadurch können sich neue Ideen, neues Wissen, neue Technologien in einer Population ausbreiten. Andere in der Population können wiederum auf dieses Wissen und diese Technologien bauen, sie erweitern, verbessern und neue Dinge hinzufügen. All dies wird wiederum an alle in der Population weitergegeben usw.

Allerdings wurden nicht alle Technologien, Wissen oder Verhaltensweisen im gleichen Maße in den Populationen unserer Vorfahren weitergegeben oder angesammelt. Einige Dinge wurden (und werden) stärker imitiert oder weitergegeben als andere, einige Dinge sind wieder aus den Populationen verschwunden. Das führt schließlich zur kulturellen Evolution.

"We humans are smart because we are cultured, rather than cultured because we are smart."​

Die Unterschiede zwischen den Traditionen und Kulturen von verschiedenen Arten und der kumulativen Kultur in unserer Art.

Quelle: angepasst von Whiten & van Schaik (2007)

Michael Tomasello (ehemaliger Direktor der Forschungsgruppe für vergleichende und Entwicklungspsychologie am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie) spricht über die Bedeutung von kumulativer Kultur in unserer Art und verwendet die Metapher eines „Wagenhebers“ bzw. einer Sperrklinke (eng: ratchet).

Michael Muthukrishna über die Entstehung von Innovationen in menschlichen Gruppen. Laut ihm und anderen Wissenschaftlern sind Innovationen nicht so sehr auf einzelne schlaue Erfinder zurückzuführen, sondern eher das Ergebnis von Vernetzung, Ideenaustausch und sozialem Lernen zwischen vielen Menschen und über viele Generationen.

Wie könnten wir die Hypothese überprüfen, dass das angesammelte kulturelle Wissen für den evolutionären Erfolg (Überleben, Fortpflanzung, Bevölkerungswachstum) unserer Art so bedeutend war und ist? Schließlich wäre es unethisch, ein Experiment durchzuführen, bei dem wir einer Gruppe von Menschen kulturelles Wissen vorenthalten und sie dann mit einer anderen Gruppe von Menschen vergleichen, denen viel Wissen und Können beigebracht wurde, um festzustellen, welche Gruppe in einer bestimmten Umgebung besser überlebt und mehr Nachkommen hat.

Was wir tun können, ist in unserer Geschichte nach „natürlichen Experimenten“ zu suchen, bei denen menschliche Gruppen von kulturellem Wissen abgeschnitten waren, das es ihnen ermöglichen würde, in einer bestimmten Umgebung zu überleben. Der evolutionäre Anthropologe Joseph Henrich hat eine Reihe solcher Geschichten gesammelt. Sie erzählen uns, wie wichtig es für unser Überleben ist, uns mit anderen zu vernetzen und angesammeltes kulturelles Wissen durch Lehren und Lernen zu erlangen und weiterzugeben.

Wir können auch Experimente im Labor durchführen. In solchen „Transmission Chain“ -Experimenten müssen Menschen Dinge erstellen – ein Werkzeug, ein Konstruktion, ein Bild usw. – und diese über mehrere „Generationen“ hinweg verbessern, indem sie die vorherige Version verändern. Eine vor kurzem veröffentlichte Studie (Derex et al., 2019) ergab, dass Menschen eine Technologie verbessern können, indem sie über mehrere Iterationen daran basteln, ohne aber die dahinter stehende Physik wirklich zu verstehen. Die Wissenschaftler meinen, dass dies darauf hindeutet, dass die Fähigkeit unserer Art für kumulative Kultur nicht unbedingt auf unserem individuellen Verständnis oder „Schlauheit“ beruht, sondern auf unserer Fähigkeit, aus früheren Ideen zu lernen und darauf aufzubauen. Dennoch ist ein gewisses Verständnis wahrscheinlich hilfreich, um mögliche Verbesserungen zu wählen, die „am wahrscheinlichsten“ das gewünschte Ergebnis erzielen werden.

Humans Can Improve Technology without Really Understanding It. Small tweaks, not deep physical insight, can lead to a better mousetrap. (Gary Stix, Scientific American, 2019)

Verschollene Entdecker

Geschichten von verschollenen Entdeckern in Australien im 19. Jahrhundert, welche uns etwas über die Bedeutung von kulturellem Wissen für unser Überleben aussagen.

Lesetext: Kumulative Kultur

Ein Lesetext über die Bedeutung von kumulativer Kultur in unserem alltäglichen Leben und in der Evolution unserer Art

Ursache-Wirkungsdiagramm zur Evolution von kumulativer Kultur

Mögliche Reflexionsfragen:

  • Welche zusätzliche Rolle könnte die Gruppengröße oder die Anzahl der interagierenden Menschen spielen, um die Weitergabe und Anhäufung von kulturellem Wissen zu ermöglichen?

  • Wirkt(e) sich die Fähigkeit für kumulative Kultur möglicherweise auch auf die Gruppengröße aus? Inwiefern?

  • Wie können wir die Faktoren „Gruppengröße“ oder „Größe des sozialen Netzwerks“ zum Ursache-Wirkungs-Diagramm der kumulativen Kultur hinzufügen?

Literaturangaben

  • Boyd, R. T., Richerson, P. J., & Henrich, J. (2011). The cultural niche: Why social learning is essential for human adaptation. Proceedings of the National Academy of Sciences, 108(Supplement_2), 10918–10925. https://doi.org/10.1073/pnas.1100290108
  • Chudek, M., & Henrich, J. (2011). Culture-gene coevolution, norm-psychology and the emergence of human prosociality. Trends in Cognitive Sciences, 15(5), 218–226. https://doi.org/10.1016/j.tics.2011.03.003
  • Dean, L. G., Vale, G. L., Laland, K. N., Flynn, E., & Kendal, R. L. (2014). Human cumulative culture: A comparative perspective. Biological Reviews, 89(2), 284–301. https://doi.org/10.1111/brv.12053
  • Derex, M., Bonnefon, J. F., Boyd, R., & Mesoudi, A. (2019). Causal understanding is not necessary for the improvement of culturally evolving technology. Nature Human Behaviour, 3(5), 446–452. https://doi.org/10.1038/s41562-019-0567-9
  • Henrich, J. (2016). The Secret of Our Success. How Culture Is Driving Human Evolution, Domesticating Our Species, and Making Us Smarter. Princeton, Oxford: Princeton University Press.
  • Heyes, C. (2020). Culture Primer, PsyArXiv Preprints. https://doi.org/10.31234/osf.io/v8ms3
  • Mesoudi, A., & Whiten, A. (2008). The multiple roles of cultural transmission experiments in understanding human cultural evolution. Philosophical Transactions of the Royal Society of London. Series B, Biological Sciences, 363(1509), 3489–3501. https://doi.org/10.1098/rstb.2008.0129
  • Muthukrishna, M., & Henrich, J. (2016). Innovation in the Collective Brain. Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences, 371(1690), 20150192. https://doi.org/10.1098/rstb.2015.0192
  • Whiten, A., & van Schaik, C. P. (2007). The evolution of animal “cultures” and social intelligence. Philosophical Transactions of the Royal Society B-Biological Sciences, 362(1480), 603–620. https://doi.org/10.1098/rstb.2006.1998
  • Whiten, A., Hinde, R. A., Laland, K. N., & Stringer, C. B. (2011). Culture evolves. Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences, 366(1567), 938–948. https://doi.org/10.1098/rstb.2010.0372