Zu Charles Darwins Zeiten wusste man noch nichts von Genen. Darwin und andere wussten nur, aus Beobachtungen in der Welt, dass Nachkommen ihren Eltern ähneln, und dass Organismen in ihren Merkmalen variieren. Neue Merkmale entstehen in irgendeiner Weise, und Merkmale werden in irgendeiner Weise an Nachkommen vererbt. So formulierte Darwin seine Theorie der Evolution durch natürliche Selektion sehr allgemein und ohne Bezug zu einem konkreten Vererbungsmechanismus oder Erbträger.

Durch die Arbeit von Gregor Mendel und mit der Entdeckung der DNA war man sich sicher, dass man nun die Erbträger und die Mechanismen gefunden hatte, die die Vererbung und Variation von Merkmalen ermöglichen. So wurde die Evolutionstheorie in den 1940ern umformuliert als “eine Veränderung von Allelfrequenzen in Populationen”. Diese Formulierung der Evolutionstheorie nennt sich die “Modern Synthesis” (moderne Synthese).

Doch in den letzten Jahrzehnten wurden viele Biologen darauf aufmerksam, dass Genmutationen und die Vererbung von Genen nicht allein alle Merkmale erklären können, die wir in Lebewesen finden. Viele Tiere scheinen Verhaltensweisen z.B. durch Nachahmung an Nachkommen und andere zu “vererben”. Auch scheinen viele Tiere von ihnen geschaffene Strukturen an ihre Nachkommen zu „vererben“, welche Auswirkungen auf ihre Überlebens- und Fortpflanzungschancen haben.

Vor allem für den Bereich der menschlichen Evolution müssen wir diese anderen Möglichkeiten der Vererbung scheinbar in Betracht ziehen: Menschen habe viele kulturelle Merkmale und Technologien, die nicht genetisch festgelegt sind (oder anders ausgedrückt: die Variation in kulturellen Merkmalen steht in geringer Beziehung zur Variation im Genotyp), und doch an andere weitergegeben werden, oft sogar selektiv (nicht alle Merkmale und Technologien werden gleich stark weitergegeben und imitiert).

So schlugen sie vor, dass wir die Definition der Evolutionstheorie ausweiten müssen, um so auch die Variation, Selektion und Weitergabe von phänotypischen Merkmalen und Dingen zu erklären, die nicht sehr stark an Gene oder an einen biologischen Generationenwechsel gebunden sind. Die kulturelle Evolution, das heißt die Veränderung und Verteilung von Verhaltensweisen, Überzeugungen, Wissen, sozialen Normen, Technologien, Weltanschauungen, Institutionen und anderer kultureller Merkmale in Populationen, kann man u.a. mithilfe dieser erweiterten Evolutionstheorie untersuchen und erklären.

Kulturelle Evolution

Schüler reflektieren über die Unterschiede zwischen genetischer und kultureller Evolution anhand übergreifender Prinzipien und Konzepte der Evolutionstheorie.

Worin ähneln und unterscheiden sich die genetische Evolution und die kulturelle Evolution?

Genetische Evolution

Phänotypische Evolution (inkl. kulturelle Evolution)

Welche Veränderungen in einer Population sind von Interesse?

Die Häufigkeit und Verteilung von Genen/Allelen

Die Häufigkeit und Verteilung von Merkmalen, z.B. Gene, körperliche Merkmale, Verhalten, Wahrnehmungen, Sozialstruktur, Normen und Institutionen, von Lebewesen geschaffene Dinge oder Strukturen

Wodurch entstehen neue Variationen eines Merkmals?

Durch zufällige Mutationen und Rekombination von Genen

Verschiedene Mechanismen sind möglich, je nach Merkmal: zufällige Mutationen und Rekombination von Genen; durch Ausprobieren (trial-and-error), Zufälle/Fehler, Einfallsreichtum, Kreativität, “brainstorming”, Rekombination von Ideen

Wie geschieht die “Selektion” von Merkmalen?

Das Merkmal erhöht die Fortpflanzungschancen unter den gegebenen Umweltbedingungen.

Verschiedene Mechanismen, je nach Merkmal: erhöhte Fortpflanzungschancen; durch Konditionierung, Lernen am Erfolg, innere Motivationen und Präferenzen oder Charakteristika des Merkmals oder des Merkmalsträgers ist ein Individuum motiviert, das Verhalten, die Technologie etc. zu lernen, zu wiederholen, nachzuahmen, nachzubauen, zu verwenden oder anderen beizubringen (manchmal kulturelle Selektion genannt); Vorteile und Motivationen müssen nicht bewusst wahrgenommen werden; die durch Verhalten veränderten Umweltbedingungen können wiederum bestimmte Gene selektieren

Durch welche anderen Mechanismen können sich Merkmalsfrequenzen in der Population ändern?

Durch zufällige Prozesse wie Gendrift, Gründereffekt, Migration; abweichende Weitergabe bestimmter Gensequenzen (biased transmission) durch meiotic drive

Durch zufällige Prozesse wie Drift (genetische, kulturelle), Gründereffekt, Migration; abweichende oder bevorzugte Weitergabe (biased transmission) aufgrund von Faktoren in der Wahrnehmung

Wie wird ein Merkmal vererbt, weitergegeben oder in der Population vermehrt?

Durch biologische Fortpflanzung und Vererbung von genetischem Material an Nachkommen

Verschiedene Mechanismen sind möglich, je nach Merkmal: durch biologische Fortpflanzung und Vererbung des genetischen Materials (genetische Vererbung) und von Genregulationsnetzwerken (epigenetische Vererbung); durch soziales Lernen/Lehren, Nachahmung, Nachbauen (Weitergabe sowohl an Nachkommen als auch an Andere; Vererbung von Verhalten und Symbolen), durch Ansammlung geschaffener Dinge und Strukturen, die in der Umwelt über längere Zeit bestehen bleiben (ökologische Vererbung)

Was ist die Bedeutung von “Fitness”?

Anzahl überlebende Nachkommen; die zunehmende Häufigkeit des Genes/Allels in der Population

Anzahl Nachkommen und/oder Anzahl Nachahmer; die zunehmende Häufigkeit des Merkmals oder der Technologie in der Population

Können sich Lebewesen im Laufe eines Lebens an Umweltbedingungen anpassen?

Nein, denn das Genom in den Keimzellen eines Organismus ändert sich nicht im Laufe eines Lebens. Nur Populationen von Organismen können sich anpassen.

Ja, denn viele Organismen können ihr Verhalten oder ihre Umweltbedingungen ändern, oder neue Dinge schaffen. Diese Veränderungen können sich auch auf Folgegenerationen auswirken.

Manche Biologen sehen auch Organismen als Populationen von Zellen und Merkmalen, welche sich im Laufe ihrer Entwicklung durch Variation und selektives Fortbestehen von Merkmalen verändern.

Wo wird Information gespeichert?

Im Genom, im Genpool

Im Genom, Genpool, Genregulationsnetzwerken (Epigenetik), in neuronalen Netzen/Gehirn, sozialen Netzwerken, in der Umwelt (Strukturen, Technologien, Bücher, Computer,…)

Warum ist die kulturelle Evolution gerade in unserer Art so bedeutend?

Während unter Wissenschaftlern darüber diskutiert wird, inwieweit die menschliche Kultur – und unsere Fähigkeiten für Kultur – der Kultur anderer Tiere ähnlich oder unterschiedlich sind, kann kaum jemand widersprechen, dass die Rolle der Kultur in unserer Art einzigartig ist. Zum Beispiel gibt es bei keiner anderen Tierart ein derartiges Maß an kultureller Vielfalt, und keine andere Art hat ihre Umwelt mit Hilfe von Kultur auf solch drastische Weise verändert. Aus der Perspektive der Evolutionsbiologie und evolutionären Anthropologie muss dieses Phänomen ebenso erklärt werden wie das Nussknacken von Schimpansen, der Nestbau von Ameisen oder der Pfauenschwanz.

Die obige Tabelle zeigt, dass eine Reihe von Merkmalen wichtig sind, damit kulturelle Evolution in einer Bevölkerung „loslegen“ kann – insbesondere die Fähigkeiten und Motivationen für Nachahmung und Lehren. Je größer die Gruppengröße ist, desto höher ist außerdem die Wahrscheinlichkeit, dass kulturelle Merkmale in Gehirnen und sozialen Netzwerken „gespeichert“ werden, anstatt verloren zu gehen, was eine kumulative Kultur ermöglicht.

Basierend auf den Erkenntnissen aus verschiedenen Forschungsmethoden, einschließlich der Entwicklungspsychologie und vergleichender Verhaltensforschung, Computersimulationen und archäologischer Befunde, schließen Anthropologen, dass Menschen bestimmte Tendenzen zu haben scheinen, bestimmte kulturelle Merkmale oder Individuen in ihrer soziale Gruppe eher nachzuahmen als andere; diese Tendenzen werden Imitation biases genannt. Diese Tendenzen sind wahrscheinlich das Ergebnis natürlicher Selektion im Verlauf der menschlichen Evolution, in der das Leben immer mehr vom Leben und Zusammenarbeiten in Gruppen abhing. Diese imitation biases erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass sich adaptive kulturelle Merkmale ausbreiten (jedoch auch nicht immer – Merkmale können auch für Gruppen oder Einzelpersonen und über bestimmte Zeiträume hinweg schlecht angepasst sein bzw. negative Auswirkungen haben) und führen dazu, dass Gruppen innerhalb homogener werden, sich jedoch stärker voneinander unterscheiden.

Einige wichtige imitation biases sind:

  • die Tendenz, die Mehrheit nachzuahmen und das Verhalten der Mehrheit als „normal“ zu betrachten (frequenzabhängiger bias, Konformitätsbias, Norm-Psychologie)

  • die Tendenz, die erfolgreichsten oder angesehensten Personen nachzuahmen (Prestige-bias; was auch immer „Erfolg“ oder „Prestige“ bedeutet)

  • die Tendenz, das Merkmal aufgrund bestimmter attraktiver Eigenschaften nachzuahmen oder anzunehmen (z. B.: es erleichtert das Leben, es ist billiger, es sieht schön aus, es fühlt sich gut an, es ist leichter zu lernen usw.)

  • Auch persönliche Vorlieben (z. B. was ich für wünschenswert halte) und das soziale Umfeld oder die Gruppe, mit der wir uns identifizieren (z. B. was in meiner Gruppe als wünschenswert erachtet wird) spielen eine Rolle in dem Maße, in dem wir bestimmte kulturelle Merkmale lernen oder annehmen werden.

All diese Tendenzen und Präferenzen werden auf komplexe Weise interagieren, und Wissenschaftler der kulturellen Evolution diskutieren und untersuchen weiterhin, inwieweit all diese Tendenzen den Verlauf der kulturellen Evolution beeinflussen.

Ursache-Wirkungsdiagramm zur kulturellen Evolution

Kulturelle Evolution und Nachhaltigkeit

Unser Verständnis über die kulturelle Evolution ist relevant für die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung:

  • Warum und wie breiten sich „nicht nachhaltige“ Verhaltensweisen und andere negative Merkmale aus?

  • Wie können wir unser Verständnis über kulturelle Evolution und über die imitation biases von Menschen nutzen, um die Verbreitung von “nachhaltigen” Verhaltensweisen und anderen gewünschten Merkmalen zu fördern?

  • Welche Rolle kann ein größeres Bewusstsein über unsere eigenen Werte und über die Einflüsse unserer sozialen Umwelt darin spielen, welche Verhaltensweisen wir uns aneignen?

Mit diesen Fragen beschäftigen sich Nachhaltigkeitswissenschaftler und Verhaltensforscher zunehmend.

Was motiviert Menschen zum Stromsparen?

In diesem Verhaltensexperiment wurde untersucht, wie man Menschen zum Strom Sparen motivieren kann. Wie stark wirken unterschiedliche Nachrichten und Aufforderungen auf das Verhalten von Menschen?

Der Beginn der kulturellen Evolution (Merkmale: Technologien)

3 – 2,5 Mio Jahre: erste Oldowan-Steinwerkzeuge und Beginn der Steinzeit.

Die Herstellung dieser Werkzeuge erforderte bereits erhöhte Ausdauer, Planungsfähigkeit, und Kontrolle und Koordination der Handbewegungen, verglichen mit der Werkzeugherstellung von Schimpansen. (siehe Werkzeugherstellung)

1,7 Mio Jahre

Der Faustkeil als nächste Innovation der Steinwerkzeuge. Die Qualität und Variation der Faustkeile nahm ab diesem Zeitpunkt allmählich zu. Die Zeitspanne und Arbeitsschritte zwischen der Erkennung eines Problems („Hunger“, “Nahrung finden”) und dessen Lösung wurden länger – Werkzeuge wurden für die Zukunft hergestellt, und über weitere Entfernungen transportiert, was erhöhte geistige Fähigkeiten erfordert. Die Weitergabe dieser Technologie erforderte auch erhöhte Fähigkeiten für soziales Lernen und Lehren.

Reflexion: Zwischen dem Auftauchen der ersten Oldowan-Steinwerkzeuge und dem Auftauchen der ersten Faustkeile lagen ca. 1 Million Jahre! Was könnte die Gründe dafür sein, dass es scheinbar über einen so langen Zeitraum keine weitreichenden Innovationen in der Werkzeugherstellung in den Populationen unserer Vorfahren gab?

ca. 1 Mio Jahre: Erste Anzeichen für die Nutzung von Feuer. Feuer ermöglichte u.a. größeren Schutz vor Raubtierenv.a. nachts.

Vor ca. 800 000 Jahren konnte Homo erectus Feuer scheinbar beherrschen. Die Zubereitung von Fleisch mithilfe von Feuer machte es einfacher, das Fleisch zu kauen und zu verdauen, was die Energiegewinnung aus fleischlicher Nahrung effizienter machte, die Nahrungsversorgung der Gruppe verbesserte, und den Selektionsdruck auf die körperlichen “Kauwerkzeuge” und Verdauungsorgane weiter abschwächte.

Nutzung von Feuer hatte sicherlich auch einen Einfluss auf das Sozialleben – zusammen am Feuer sitzen, sich gegenseitig Dinge zeigen, und schließlich erzählen.

Ca. 400 000 Jahre alter Speer aus Schöningen.

or 300 000 Jahren

Werkzeuge des Mittelpaläolithikums

Werkzeuge aus verschiedenen Materialien (Stein, Holz, Knochen), für viele verschiedene Zwecke, inklusive für die Herstellung anderer Werkzeuge

Literaturangaben

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