Schnelles und langsames Denken

Wenn wir unsere Wahrnehmung und unser Denken genauer betrachten, stellen wir fest, dass einiges davon recht automatisch und mühelos, ohne unsere Anstrengung stattfindet. Andere Situationen erfordern unsere bewusste Konzentration und ermüden uns schnell. So fühlt sich z.B. die Lösung der Aufgabe “2 + 2” für uns ganz anders an als die Lösung der Aufgabe “17 * 23”.

In der Psychologie werden diese unterschiedlichen Prozesse oft grob in zwei Denkweisen eingeteilt – ein schnelles System 1, und ein langsames System 2. Oft sind wir der Meinung, unser System 2 sei in Kontrolle, tatsächlich beherrscht System 1 unsere Wahrnehmung, unser Denken und Handeln. Denn System 1 hilft uns, in einer komplexen, dynamischen Welt schnell und mühelos zu navigieren und zu überleben.

Der israelisch-amerikanische Psychologe Daniel Kahneman hat die Erkenntnisse über die Rolle von System 1 und System 2 in unserer Wahrnehmung in seinem 2011 erschienenen Buch Thinking, Fast and Slow (in deutscher Version: Schnelles Denken, langsames Denken) populär gemacht.

Schnelles Denken oder langsames Denken

In dieser Unterrichtseinheit sortieren Schüler:innen ihre eigenen Denkprozesse in eher langsame und schnelle Denkprozesse. Darauf aufbauend erlangen sie das Verständnis, dass unser Denken durch Erfahrung geprägt wird, so dass Dinge, die wir oft und regelmäßig tun, über die Zeit einfacher werden.

Warum schnelles Denken?

Die geistigen Aktivitäten von “System 1” haben wir mit vielen Tierarten gemeinsam, und wir werden mit einigen dieser Fähigkeiten geboren. Andere Intuitionen entwickeln wir im Laufe unserer Entwicklung durch wiederholte Reize und Übung. Deswegen können wir das Lesen von Wörtern in unserer Muttersprache oder die Lösung der Aufgabe “2+2” kaum unterdrücken, obwohl es eine Zeit gab, in der dies für uns neu und anstrengend war.

Die Funktion dieser unbewussten und automatischen Intuitionen für uns und andere Tiere ist es, die Regelmäßigkeiten unserer sozialen und natürlichen Umwelt schnell zu lernen, sie schnell und ohne viel Energieaufwand wahrzunehmen, und Handlungen schnell auszuführen. System 1 ermöglicht uns, in einer komplexen, dynamischen Welt zu navigieren und zu überleben. Vereinfachte und verzerrte Wahrnehmungen der Umwelt schleichen sich ein, weil sie in der Regel keine negativen Auswirkungen, und oft positive Auswirkungen für uns haben. So können wir nicht verhindern, dass wir manchmal Gesichter sehen, wo keine sind, und auf andere optische Illusionen hereinfallen. Alles was wir tun können, ist zu lernen, wann System 1 unsere Wahrnehmung der Welt verzerrt und vereinfacht, und unserer Wahrnehmung nicht immer blind zu vertrauen.

Andere Prozesse von System 1 können wir im Laufe der Zeit ändern und einüben, indem wir uns mithilfe von System 2 anstrengen. So können wir Menschen, wenn wir wollen, zu allen möglichen Experten werden!

““Zu den Funktionen von System 1 gehören angeborene Fähigkeiten, die wir mit anderen Tieren gemeinsam haben. Wir werden mit der Fähigkeit geboren, unsere Umwelt wahrzunehmen, Gegenstände zu erkennen, unsere Aufmerksamkeit zu steuern, Verluste zu vermeiden und uns vor Spinnen zu fürchten. Andere mentale Aktivitäten werden durch lange Übung zu schnellen automatisierten Routinen.”

Ursache-Wirkungs-Diagramm zur Evolution von "Schnellem Denken" (System 1)

Die Evolution von System 1 begann relativ früh in der Geschichte des Lebens mit der Fähigkeit für assoziatives Lernen.

Schnelles Denken und "kognitive Verzerrungen"

Schnelles Denken führt zu einer verzerrten oder vereinfachten Wahrnehmung der Realität. Leider können wir die meisten dieser Prozesse, per Definition, nicht sehen, da sie unbewusst ablaufen. Doch optische Illusionen erlauben uns, dem Schnellen Denken „bei der Arbeit“ zuzusehen. Dabei können wir darüber reflektieren, warum diese automatischen Verzerrungen überhaupt stattfinden – haben sie eine Funktion? Erlauben sie uns (und erlaubten sie unseren Vorfahren), in der Umwelt zurechtzukommen, oder sind sie nutzlose „Softwarefehler“ unseres Gehirns?

Die Schachbrett-Illusion. Quadrat A und B haben denselben Farbton. Bildquelle: Edward H. Adelson. CC BY-SA 4.0
Für unser Navigieren in der Welt ist es hilfreicher, Hell-Dunkel-Kontraste wahrzunehmen statt absolute Farbtöne.

Aufnahme einer Bergkette auf der MarsoberflächeWir erkennen unwillkürlich ein Gesicht. Bildquelle
Für unser Navigieren in der Welt ist es hilfreich, das Vorhandensein von anderen Lebewesen (z.B. Raubtiere!) und Mitmenschen schnell zu erkennen. Dabei war es für unsere Vorfahren besser, auf „Nummer sicher“ zu gehen, und Gesichter schon bei kleinsten Anzeichen als solche zu interpretieren: denn kein Gesicht zu sehen, wo eins ist, kann tödlich sein!

„Kanizsa Triangle“ – Wir „vervollständigen“ das Bild und sehen Linien, wo keine sind. Bildquelle
Für unser Navigieren in der Welt ist es hilfreich, selbst lückenhafte Informationen in bedeutungsvolle Informationen, regelmäßige und vertraute Muster umzuwandeln (ähnlich wie bei Gesichtern, siehe das Bild in der Mitte).

Diese Verzerrung und Vereinfachung der Realität geschieht jedoch nicht nur beim Anschauen von optischen Illusionen, sondern fast immer! 

Denn die vielen Informationen, die über unsere Sinne unaufhörlich in das Gehirn eintreffen, müssen in irgendeiner Weise erst in „wichtig“, „bedeutungsvoll“, „ähnlich“  oder „neu“ bewertet werden. So filtert, vereinfacht, kategorisiert, interpretiert und bewertet unser Gehirn ständig diese Informationen, meist ohne dass wir uns dessen bewusst sind  – Ist das ein gefährliches Tier? Bin ich mir sicher genug? Kann ich das ignorieren? Gab es diese Situation schon einmal? usw. Diese Vorgänge des „schnellen Denkens“ haben sich im Laufe der Evolutionsgeschichte in unseren Vorfahren durchgesetzt, weil sie ihnen erlaubten, in einer komplexen Welt navigieren und schnell handeln zu können. Sie erfüllen also überlebenswichtige Funktionen. Es wäre unmöglich für uns, uns zu bewegen und zu überleben, wenn wir all diese automatischen Vorgänge stattdessen durch konzentriertes, langsames, rationelles Nachdenken vollführen müssten.

Meist sind diese automatischen Vereinfachungen der Wirklichkeit also hilfreich oder zumindest harmlos – wir Menschen erkennen z.B. leicht überall Gesichter, selbst da wo keine sind.  Aber diese kognitiven Verzerrungen können auch zu Fehldeutungen, Vorurteilen, falschen Beschuldigungen, und damit zu sozialen Konflikten und anderen negativen Konsequenzen für uns selbst, unser soziales Umfeld und unsere Gesellschaft führen. Bewusstsein darüber, wie unser Gehirn ständig automatisch die Realität filtert und bewertet, ist ein erster Schritt, die negative Wirkung von kognitiven Verzerrungen auf unser Handeln zu entschärfen und kritisches Denken zu fördern.

Geistige Verzerrungen und ihre Funktionen

In dieser Unterrichtseinheit lernen die Schüler:innen das Konzept kognitiver Verzerrungen sowie eine Reihe wichtiger kognitiver Verzerrungen kennen, die unser Wohlbefinden und unsere sozialen Interaktionen beeinflussen können, identifizieren ihre Ursachen in der Evolutionsgeschichte, insbesondere ihre Funktionen für das Überleben und überlegen, wie sie mit kognitiven Verzerrungen umgehen können.

Warum langsames Denken?

Die geistigen Prozesse von System 1 und System 2 sind nicht strikt voneinander trennbar – viele Prozesse sind mehr oder weniger automatisch, mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger flexibel. Andere Tierarten, z.B. Primaten und insbesondere Menschenaffen, mögen bestimmte Fähigkeiten für “langsames Denken” haben. Dennoch scheinen die Aktivitäten von System 2 besonders bei uns Menschen ausgeprägt zu sein. Sie entstanden vermutlich im Laufe unserer Evolutionsgeschichte, weil bestimmte geistige Fähigkeiten, wie Kontrolle und Unterdrückung von emotionalen Impulsen in sozialen Situationen, Konzentration auf Aktivitäten wie das Erlernen und Lehren von komplexer WerkzeugherstellungKontrolle von Körperbewegungen, für das Überleben unserer Vorfahren immer wichtiger wurden.

System 2 ist an die Aktivität der Großhirnrinde gebunden und wir kommen nicht damit auf die Welt – es entwickelt sich im Laufe unseres Lebens.

Oft sind wir der Meinung, unser System 2 (unser “Ich”, unsere “Absicht”, unser “Wille”) sei in Kontrolle, schließlich sind wir uns meist nur über System 2 bewusst. Tatsächlich beherrscht aber System 1 unsere Wahrnehmung, unser Denken und Handeln, denn System 2 verbraucht viel Energie und ist anstrengend! Beobachte einmal, wie oft und in welchen Situationen du und dein Geist im Laufe eines Tages von System 1 und System 2 Gebrauch machen.

“Die Operationen von System 2 gehen oftmals mit dem subjektiven Erleben von Handlungsmacht, Entscheidungsfreiheit und Konzentration einher. (...) Wenn wir an uns selbst denken, identifizieren wir uns mit System 2, dem bewussten, logisch denkenden Selbst, das Überzeugungen hat, Entscheidungen trifft und sein Denken und Handeln bewusst kontrolliert”

Ursache-Wirkungs-Diagramm zur Evolution von "langsamen Denken" (System 2)

Das Überleben und die Fortpflanzung unserer Vorfahren hingen zunehmend von verschiedenen geistigen und sozialen Fähigkeiten ab. Kooperative Nahrungsbeschaffung und Kinderfürsorge, das Lernen und Lehren von Werkzeugherstellung, die Vermeidung und Lösung von Konflikten im Gruppenleben erforderten zunehmend, dass Individuen ihre emotionalen Impulse kontrollieren konnten, sich auf etwas konzentrieren konnten, ihre Aufmerksamkeit und Strategie flexibel lenken konnten und mehrere Dinge gleichzeitig im Kopf behalten konnten.

Ein Fahrrad zu fahren ist eine komplexe Aufgabe, aber wenn wir es erst einmal gemeistert haben, können wir es ziemlich einfach und ohne Konzentration tun – was früher System 2- Arbeit war, wird zu System 1. Dann wird es für unser Gehirn jedoch schwer, ein Fahrrad zu fahren, das ganz anders funktioniert.

Welche Rolle spielen System 1 und System 2 dabei, dass wir im Laufe unseres Lebens verschiedene Dinge lernen und „verlernen“ können?

Verkehrt-Herum-Fahrrad

In diesem Video geht es um ein Fahrrad, das anders als normale Fahrräder funktioniert. Es ist nicht so leicht, dieses andere Fahrrad fahren zu lernen, doch mit viel Anstrengung und Übung kann man es schaffen.

Carol Dweck spricht über „Growth Mindset“. Growth-Mindset (im Gegensatz zum „Fixed Mindset“) steht für die Grundhaltung oder Überzeugung, dass bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten eines Menschen nicht festgelegt oder angeboren sind, sondern dass man durch Lernen, Erfahrung und Anstrengung seine eigenen Fähigkeiten fortlaufend verbessern kann, oder aus Fehlern lernen kann. Die Metaphern des schnellen und des langsamen Denkens können helfen zu verstehen, warum es manchmal anstrengend wird, neue Dinge zu lernen.

Laut Carol Dweck ist die Förderung eines Growth-Mindsets in SchülerInnen eine bedeutende Aufgabe der Schulbildung.

„Whether you think you can, or you think you can’t—you’re right.“

– Henry Ford

Literaturangaben