Wenn wir unsere Wahrnehmung und unser Denken genauer betrachten, stellen wir auch fest, dass wir ziemlich oft „woanders sind“. Wir sitzen zwar im Zimmer, laufen die Straße entlang oder liegen im Bett, aber im Geist schweifen wir zeitlich und räumlich umher: wir erinnern uns an eine Situation von gestern oder vom letzten Jahr und spielen sie ab wie einen Film, stellen uns eine Situation von morgen oder in 20 Jahren vor, und malen uns alle möglichen Situationen aus, die gar nichts mit unserer Wahrnehmung der Welt im „Hier-und-Jetzt“ zu tun haben.

Wissenschaftler nennen dieses geistige Verhalten „mentales Zeitreisen“. Warum haben wir dieses Verhalten? Können andere Tierarten das auch? Warum, oder warum nicht?

Keiner von uns kann sich an unseren ersten Geburtstag erinnern. Doch wenn du in dem Alter bist, dass du diesen Text lesen kannst, bestimmt das mentale Zeitreisen wahrscheinlich einen Großteil deiner alltäglichen Erfahrung, manchmal auf negative und manchmal auf positive Weise. Wie kommen wir im Laufe unseres Lebens zu diesem Verhalten?

Diese Fragen werden zwar immer noch diskutiert, aber die meisten Wissenschaftler, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, sind der Meinung, dass sich mentales Zeitreisen in unserer Art besonders stark ausgebildet hat. Außerdem kommen wir nicht damit auf die Welt – Kinder ab dem Alter von ca. 4 Jahren fangen zunehmend an, Vorstellungen von der Vergangenheit und der Zukunft zu haben, und diese in ihr Handeln einzubeziehen. Heute haben wir dank historischer Überlieferungen, Büchern, Kalendern, Wissenschaft und anderen kulturellen Wissens eine Vorstellung davon, dass es eine Vergangenheit vor hunderten, tausenden, Millionen und gar Billionen von Jahren gab, und eine Vorstellung darüber wie sich die Welt in Zukunft verändern könnte. Die Beziehungen mit anderen Menschen, Sprache und kulturelles Wissen sind scheinbar wichtige Faktoren, die bei der Ausbildung dieser Fähigkeiten für mentales Zeitreisen eine Rolle spielen.

“Was ist in deinen Taschen? Es ist gut möglich, dass du Schlüssel, Geld, Kosmetik, ein Schweizer Taschenmesser oder andere Hilfsmittel dabei hast, weil sie an einem späteren Zeitpunkt nützlich sein könnten. Menschen haben die allgegenwärtige Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen, die Zukunft zu planen und zu gestalten (auch wenn wir oft etwas falsch machen). Diese Fähigkeit muss lange Zeit für unser Überleben von großer Bedeutung gewesen sein (...) und könnte eine wichtige Rolle in der geistigen Entwicklung des Menschen gespielt haben. Steinerne Werkzeuge und Speere aus archäologischen Funden deuten darauf hin, dass sich die Vorfahren des modernen Menschen bereits vor Hunderttausenden von Jahren auf die Zukunft vorbereiteten. (...)

Natürlich verhalten sich andere Tiere auch auf eine Weise, die ihre Überlebenschancen in der Zukunft erhöhen. In vielen Arten haben sich durch Evolution Instinkte entwickelt, die sie veranlassen, zum Beispiel Nester zu bauen oder Nahrung anzusammeln. Außerdem ermöglicht das Lernen es einzelnen Individuen, statt einer ganzen Spezies, Regelmäßigkeiten anhand von Auslösereizen vorherzusagen (z. B. wenn ein Geruch das Vorhandensein einer Nahrungsquelle signalisiert). (...)

Menschenaffen scheinen sogar in der Lage zu sein, sich Situationen vorzustellen, die sie nicht direkt wahrnehmen können. Sie können auch einfache Hilfsmittel zur Lösung von naheliegenden Problemen herstellen, z. B. die Herstellung eines geeigneten Stocks, um Nahrung zu erlangen, die sonst unerreichbar wäre (...). Es gibt jedoch wenig Anzeichen dafür, dass Tiere über die weiter entfernte Zukunft nachdenken.(...)"

Wenn eine Gruppe von Homo erectus ein totes oder schwaches Tier sichtete, so war es von großem Vorteil, Steine zum Werfen und gute Werkzeuge bereit zu haben, um Konkurrenten und Fressfeinde abzuwehren und schnell wertvolles Fleisch vom Kadaver zu schneiden.

Die Herstellung komplexerer Werkzeuge brauchten immer mehr Zeitaufwand und immer mehr Arbeitsschritte – für die Herstellung eines Faustkeils braucht es etwa 45 Minuten. Es reichte nicht aus, mit der Herstellung eines Faustkeils anzufangen, oder nach brauchbaren Steinen zum Werfen zu suchen, wenn man gerade eine Antilopenherde oder einen frischen Kadaver sichtet, oder wenn sich ein Löwe nähert, oder wenn man gerade Hunger bekam. Das Werkzeug oder die Waffe mussten zu dem Zeitpunkt bereits fertig und griffbereit sein! Diejenigen, die Steine und gute Werkzeuge “für alle Fälle” bereit hatten, würden bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen haben als andere.

Dies ist nur einer der vermuteten Selektionsdrücke im Leben unserer Vorfahren, unter denen gute Fähigkeiten für mentales Zeitreisen vorteilhaft waren.

  • Unterrichtsmaterial: Experimente zur kindlichen Entwicklung des mentalen Zeitreisens (in Bearbeitung)

  • Unterrichtsmaterial: Lesetext zur Evolution des mentalen Zeitreisens (in Bearbeitung)

Literaturangaben

  • Suddendorf, T. (2006). Foresight and Evolution of the Human Mind. Science, 312, 1006–1007. https://doi.org/10.1126/science.1129217
  • Osvath, M., & Gärdenfors, P. (2005). Oldowan Culture and the Evolution of Anticipatory Cognition. Lund University Cognitive Studies, 122, 1–16.