Fehlanpassung?

Sind unsere durch Evolution entstandenen menschlichen Merkmale noch gut funktionierende Anpassungen, oder können sie unter heutigen Umweltbedingungen zu Nachteilen für menschliches Wohlbefinden und die nachhaltige Entwicklung unserer Art führen?

Als evolutionäre Fehlanpassung (englisch: mismatch) bezeichnen Biolog:innen Merkmale, die Anpassungen an frühere Umweltbedingungen sind, und unter den aktuellen Umweltbedingungen ihre Funktion nicht mehr in dem Maße erfüllen wie vorher.

Sind Probleme der nachhaltigen Entwicklung auf verschiedenen Ebenen Anzeichen für die Wirkung von derartigen Fehlanpassungen?

Schließlich hat sich durch kulturelle Evolution die soziale und natürliche Umwelt von Menschen innerhalb weniger Generationen und weniger Jahrzehnte grundlegend geändert. Haben wir etwa ein “Steinzeithirn”, das diesen Veränderungen nicht gewachsen ist? 

Auf der anderen Seite zeichnet auch eine besondere Flexibilität unsere Art aus: Wir Menschen, insbesondere unsere Wahrnehmung, unser Verhalten, unsere sozialen Normen, werden weniger durch Gene und maßgeblich durch das soziale Umfeld und Erfahrungen im Laufe unserer Entwicklung geprägt. Was für die vorherige Generation normal war, kann für die nächste Generation undenkbar und unakzeptabel sein, und andersherum. Unsere kulturelle Evolution geht Hand in Hand einher mit dieser Flexibilität unserer Art.

Fehlanpassung? (Unterrichtsplan)

Schüler:innen lernen das Konzept der evolutionären Fehlanpassung kennen und wenden dieses auf diverse Probleme der nachhaltigen Entwicklung an.

Hier ist eine Liste von möglichen Fehlanpassungen bei uns Menschen bzw. deren Folgen für menschliches Wohlbefinden und nachhaltige Entwicklung.

Verwende die Informationen weiter unten, um mehr über sie zu erfahren.

Fallen dir noch weitere Beispiele von möglichen Fehlanpassungen ein, die hier noch nicht aufgelistet sind?

Inwieweit können wir diese Herausforderungen und negativen Folgen von Fehlanpassungen vermeiden oder verringern?

Ungesunde Ernährung

Unser Körper und unser Stoffwechsel sind an Umweltbedingungen angepasst, unter denen kalorienreiche (fett, zucker-, proteinreiche) Nahrung nicht in Massen oder unbegrenzt vorhanden ist. So kann unser Körper diese Nährstoffe lange speichern und so viel Energie wie möglich aus der aufgenommen Nahrung herausholen, mit einiger Variation zwischen Menschen. 

Unter heutigen Umweltbedingungen haben viele Menschen jedoch fast unbegrenzten Zugang zu fett-, zucker- und proteinreicher Nahrung. Darüber hinaus erhöhen Lebensmittelhersteller gerne die Menge an Fett, Salz und Zucker in Lebensmitteln, weil dies unseren entwickelten Geschmacksknospen gefällt und wir diese Art von Produkten eher kaufen.

So leiden viele Menschen heute an Gesundheitsproblemen oder sterben durch Ursachen, die auf ungesunde Ernährung zurückzuführen sind: Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Fettsucht.

Können wir Menschen dazu motivieren und befähigen, ihre Ernährung bewusst umzustellen und sich gesund zu ernähren, selbst wenn sie mit fett-, salz- und zuckerreichen Nahrungsmitteln in ihrer Umwelt konfrontiert sind? 

Oder müssen wir auch die Umweltbedingungen so ändern, dass es Menschen leichter fällt, sich gesund zu ernähren?

Welche Rolle können (und sollten) Technologien, gemeinsam etablierte Regulierungen in der Nahrungsmittelproduktion, soziale Normen, Medien, Erziehung und Bildung spielen?

Mangel an Bewegung

Wir sind an Umweltbedingungen angepasst, unter denen wir uns viel bewegen müssen, um an genügend Nahrung zu kommen und uns am Leben zu halten. Unser Körper ist z.B an den Ausdauer- und Langstreckenlauf angepasst. Unter heutigen Umweltbedingungen müssen sich viele Menschen nicht mehr viel bewegen. So kann Mangel an Bewegung zu körperlichen und geistigen Gesundheitsproblemen führen. 

Können wir Menschen dazu motivieren und befähigen, sich regelmäßig zu bewegen und sportlich zu betätigen, selbst wenn sie mit einer Umwelt konfrontiert sind, in der Bewegung keine Notwendigkeit ist? 

Oder müssen wir auch die Umweltbedingungen so ändern, dass es Menschen leichter fällt, sich regelmäßig zu bewegen?

Welche Rolle können (und sollten) Technologien, gemeinsam etablierte Regulierungen z.B. in der Schule oder am Arbeitsplatz, Infrastruktur (z.B. Radfahrwege, Treppen), soziale Normen, Medien, Erziehung und Bildung spielen?

Suchtanfälligkeit

Unser Gehirn hat ein sog. Belohnungssystem, welches uns dazu bewegt, in der Umwelt nach Dingen Ausschau zu halten oder Dinge zu tun, die für unser Überleben oder unsere Fortpflanzung wichtig sind: Nahrung, Paarungspartner, andere Menschen, neues Wissen, neue Ressourcen. Wenn wir diese Dinge finden oder etwas erreicht haben, empfinden wir ein positives Gefühl oder einen “Kick”. Dieses Gefühl motiviert uns dazu, uns wiederum in Zukunft anzustrengen, um weiter nach diesen Dingen zu suchen. So verleiht uns z.B. Ausdauersport ebenfalls eine Art Kick, weil es für unser Überleben wichtig war, uns zu bewegen. Dieses Belohnungssystem ist evolutionsgeschichtlich sehr alt, und wir haben es mit vielen Tieren gemeinsam. 

Unter den heutigen Umweltbedingungen haben wir Zugang zu vielen Dingen, die uns diesen Kick geben: Nahrung, Alkohol, Kaffee, Drogen, Sex, soziale Medien, Computerspiele usw. So besteht die Gefahr, dass Menschen eine Sucht für diese Dinge entwickeln: sie geraten in einen Kreislauf, der durch ihr Belohnungssystem angetrieben wird: sie benötigen immer mehr von dieser Sache in immer kürzeren Abständen, und vernachlässigen dabei womöglich andere, für ihr Leben wichtige Dinge.

Können wir Menschen dazu motivieren und befähigen, nicht in eine Abhängigkeit für bestimmte Dinge zu verfallen, selbst wenn sie mit einer Umwelt konfrontiert sind, in der diese Dinge in Massen vorhanden sind? 

Oder müssen wir auch die Umweltbedingungen so ändern, dass es Menschen leichter fällt, nicht von Dingen abhängig zu werden?

Welche Rolle können (und sollten) Technologien, soziale Umwelt, gemeinsam etablierte Regulierungen, soziale Normen, Medien, Erziehung und Bildung spielen?

Soziale Isolation

Wir sind vorrangig an ein Leben in Gruppen von bis zu ca. 150 Menschen angepasst, in der jeder miteinander vertraut ist und jeden Tag miteinander in relativ engen Kontakt kommt. Beziehungen zu Menschen und Gruppenzugehörigkeit sind wichtige Grundbedürfnisse für menschliches Wohlbefinden, weil im Laufe der Evolutionsgeschichte das Überleben und die Fortpflanzung vom Gruppenleben abhingen. Berührung mit anderen Menschen, Lachen und Emotionen teilen, sich gegenseitig Dinge erzählen, gemeinsame Interessen haben, erzeugen Glücksgefühle. 

Unter heutigen sozialen Umweltbedingungen leben viele Menschen nicht mehr in engen Gemeinschaften zusammen. Familien sind kleiner, und selten leben mehr als zwei Generationen unter einem Dach. Die Hälfte der Menschheit lebt heute in Städten. Dort werden menschliche Begegnungen vorrangig durch oberflächliche, kurzzeitige Begegnungen mit fremden Menschen geprägt. Darüber hinaus wird ein Großteil der zwischenmenschlichen Kommunikation heute über Telefon und Internet abgewickelt, in der die Begegnung zwischen Menschen auf ein Minimum reduziert wird – wir sehen keine Gesichter, berühren uns nicht, kennen den anderen nicht, teilen unsere Emotionen, Sorgen und Hoffnungen nicht mit diesen anderen. So vermuten einige Psycholog:innen, dass eine soziale Isolation für viele Menschen zu Depression und Angststörungen beiträgt. 

Können wir Menschen dazu motivieren und befähigen, für sie wichtige soziale Beziehungen einzugehen und zu pflegen, selbst wenn sie mit einer Umwelt konfrontiert sind, in der viele Begegnungen oberflächlicher Natur sind, und über das Internet ablaufen? 

Oder müssen wir auch die Umweltbedingungen so ändern, dass es Menschen leichter fällt, soziale Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten?

Welche Rolle können (und sollten) Technologien, soziale Umwelt, gemeinsam etablierte Regulierungen, soziale Normen, Medien, Erziehung und Bildung spielen?

Kommunikation im Internet und sozialen Medien

Wir sind vorrangig an Kommunikation durch direkten Kontakt mit Menschen angepasst – Blickkontakt, Gesichtsausdruck, Körpersprache und Stimme helfen uns in der Kommunikation mit Mitmenschen. Sie vermitteln nicht nur Worte sondern auch Emotionen und erlauben so emotionale Bindungen zwischen Menschen. 

Insbesondere die Kommunikation über das Internet erfolgt ganz anders – innerhalb weniger Sekunden können wir anderen, entfernten, sogar uns völlig unbekannten Menschen Wörter mitteilen, bzw. von anderen Menschen Wörter mitgeteilt bekommen. Wir wissen nicht, wer der andere ist, welche Erfahrungen er gemacht hat, oder wie er sich fühlt. Wir müssen dem Menschen am nächsten Tag nicht in die Augen schauen. Wir sind schneller dazu geneigt, Dinge zu kommunizieren, die wir von Angesicht zu Angesicht wahrscheinlich eher für uns behalten würden, denn soziale Emotionen wie Empathie, Schuld- oder Schamgefühle haben eine weniger starke Auswirkung auf unser Kommunikationsverhalten. Auf der anderen Seite haben Emotionen wie Angst oder Aggression, welche mit der Kampf-oder-Flucht-Reaktion verbunden sind, einen um so stärkeren Einfluss.

Doch Worte behalten nach wie vor eine machtvolle Bedeutung: unser Gehirn verarbeitet sie und verbindet sie mit unserer Identität, sie werden Teil unserer Gedanken, unserer Erinnerungen und unserer täglichen Erfahrung. So kann Cyber-Mobbing zu einem großen Problem für die psychische Gesundheit von Menschen werden. 

Darüber hinaus verschärft die Kommunikation auf sozialen Medien die in jeder großen und heterogenen Gruppe von Menschen existierenden Meinungsverschiedenheiten und kann somit zu sozialen Konflikten führen

„Conversations with people who hate me.“

Dylan Marron erhält aufgrund seiner Arbeit und seiner Einstellungen viele negative, oft beleidigende Kommentare in sozialen Medien. In seinem Podcast kontaktiert er die Menschen, die ihm diese negativen Kommentare schreiben, spricht mit ihnen (wenn sie nicht auflegen), und oft ergeben sich daraus interessante Begegnungen zwischen zwei Menschen, die sich vorher nicht kannten.

Können wir Menschen dazu motivieren und befähigen, die zwischenmenschliche Kommunikation so zu gestalten, dass sie von Respekt, Perspektivwechsel und Toleranz geprägt ist, selbst wenn sie mit Kommunikationsmöglichkeiten konfrontiert sind, mit deren Hilfe Beleidigungen, Mobbing und Diskriminierung einfach und schnell für sie umzusetzen sind? 

Oder müssen wir auch die Umweltbedingungen so ändern, dass es Menschen leichter fällt, respektvolle zwischenmenschliche Kommunikation im Internet aufrechtzuerhalten?

Welche Rolle können (und sollten) Technologien, soziale Umwelt, gemeinsam etablierte Regulierungen, soziale Normen, Medien, Erziehung und Bildung spielen?

  • Steve Rose: Is social media making us less social? https://steverosephd.com/is-social-media-making-us-less-social/ „Social Media is making us less social when used to compare oneself to others, contributing to higher levels of loneliness and lower levels of well-being among frequent users. It can be social when used to connect with others.“

Stress, Burnout, Depression, Angststörungen

Die Stressreaktion ist evolutionsgeschichtlich sehr alt, wir finden sie in Reptilien, Fischen, Insekten. Sie erlaubt es Tieren, in Gefahrensituationen schnell reagieren zu können, indem sie schlagartig die Flucht ergreifen oder angreifen können, insbesondere nach der Wahrnehmung von Fressfeinden oder Konkurrenten. Hormone wie Cortisol und Adrenalin verursachen einen erhöhten Herzschlag, beschleunigen den Atem, kurbeln den Stoffwechsel an, lassen die Muskeln anspannen und erhöhen die Schweißproduktion. Da die Umwelt voller möglicher Gefahren ist, ist die Stressreaktion eine höchst wirksame Anpassung. Sie ist aber auch sehr energieaufwändig für den Körper, und ein ständiger Stresszustand kann zu Beeinträchtigungen der körperlichen und psychischen Gesundheit führen. So kann die Stressreaktion unter Umständen zu einer Fehlanpassung werden.

Auch die menschliche Fähigkeit für Sprache und Symbole, in Verbindung mit unserer Fähigkeit, an die Vergangenheit und Zukunft zu denken, können heute unter Umständen eine Art Fehlanpassung darstellen. Diese Fähigkeiten erlauben uns und erlaubten unseren Vorfahren, über abwesende Dinge (und sogar über nicht existierende Dinge) zu kommunizieren, aus der Vergangenheit zu lernen, und das gegenwärtige Verhalten nach zukünftigen Zielen auszurichten. Für die Herstellung von Werkzeugen, Planung von Jagd, das mühsame Erlernen all dieser Fähigkeiten, um sie in der Zukunft zu beherrschen, waren Sprache, Symbole und das „mentale Zeitreisen“ hilfreich und erhöhten die Überlebens- und Fortpflanzungschancen. 

Unter heutigen Umweltbedingungen sind Menschen immer seltener wirklichen Gefahrensituationen ausgesetzt, die lebensbedrohlich wären. Heute wird Stress vielmehr durch soziale und psychische Faktoren verursacht: wahrgenommener Leistungsdruck und Erwartungen in der Schule, am Arbeitsplatz oder in der Familie, Lampenfieber und Nervosität in der Öffentlichkeit, wahrgenommene Zeitnot, Sorgen um die Zukunft, Erinnerungen an traumatische Erlebnisse aus der Vergangenheit, Versagensängste, Verstrickung in negative Gedanken, Mobbing.

Manchmal können uns Sprache, Symbole, das „mentale Zeitreisen“ in die Vergangenheit und Zukunft und die Stressreaktion in solchen Situationen helfen, indem sie uns anspornen, aktiv zu werden. Doch in vielen Situationen werden diese Gedanken und Reaktionen hervorgerufen, ohne dass sie zu nützlichem Verhalten veranlassen. Insbesondere bei Auslösern, die psychischer Natur sind: Ängste, Druck, Selbstkritik, Sorgen um die Zukunft, usw. In diesen Situationen können Stress und negative Gedanken nur noch mehr von diesen Auslösern verursachen – noch mehr Ängste, Druck, Selbstkritik und Sorgen – und die Person handlungsunfähig machen. So können unsere Gedanken und die Stressreaktion zu einer positiven Rückwirkung werden, die sich selbst verstärkt, und schließlich zu Burn-out, Depression und Angststörungen führen kann. 

Können wir Menschen dazu motivieren und befähigen, ihr Leben so zu gestalten, dass sie weniger anfällig auf Stress, Leistungsdruck und Selbstkritik sind, selbst wenn sie mit einer sozialen Umwelt konfrontiert sind, in der Leistung, Aussehen, Glücklichsein, Karriere und Reichtum als Maßstab gelten? 

Oder müssen wir auch die Umweltbedingungen so ändern, dass es Menschen leichter fällt, ein für sie lebenswertes Leben zu führen, in der Stressreaktionen, Erinnerungen und Gedanken größtenteils eine positive Rolle für ihr Verhalten spielen?

Welche Rolle können (und sollten) Technologien, soziale Umwelt, gemeinsam etablierte Regulierungen, soziale Normen, Medien, Erziehung und Bildung spielen?

Ein kurzer Film (in englisch) über die Funktion und Evolution des menschlichen Geistes. Mögliche Diskussionsfragen:

Der Verhaltensbiologe und Neurowissenschaftler Robert Sapolsky über die Ursache und Funktionen von Stress in Tieren. Mögliche Diskussionsfragen:

gesamter Dokumentarfilm (auf englisch): https://youtu.be/eYG0ZuTv5rs 

Modernes Schulsystem

Die Vorfahren der Menschen haben viele Millionen Jahre voneinander gelernt (immerhin haben viele Tiere die Fähigkeit für soziales Lernen – indem sie Verhaltensweisen voneinander nachahmen), und unsere Vorfahren begannen wahrscheinlich vor etwa zwei Millionen Jahren, sich gegenseitig Dinge beizubringen, als unsere Werkzeuge begannen, komplexer zu werden.

Viele Forscher:innen stellen fest, dass Kinder eine Neigung und Motivation zum Lehren und Lernen sowie eine Neugier haben, um durch Spielen und Experimentieren herauszufinden, wie die Welt funktioniert. Viele Forscher:innen kommen auch zu dem Schluss, dass Menschen bestimmte psychologische Bedürfnisse haben, wie das Bedürfnis nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Zugehörigkeit.

Schulen als Institutionen sind eine sehr neue Erfindung in Bezug auf unsere lange Evolutionsgeschichte des informellen Lehrens und Lernens. Erst in den letzten 100 bis 200 Jahren verbreiteten sich formelle öffentliche Schulen auf der ganzen Welt. Darüber hinaus hat sich die Art und Weise, wie die überwiegende Mehrheit der Schulen organisiert ist, und die Art und Weise, wie Lehren und Lernen in Schulen stattfindet, in den letzten 200 Jahren kaum verändert. Schüler:innen werden in der Regel in Klassen nach verschiedenen Altersstufen eingeteilt, es gibt meist einen einheitlichen Lehrplan, der sagt, was alle Kinder einer Klassenstufe lernen sollen, Schüler:innen sitzen meistens in Räumen und müssen die meiste Zeit einer erwachsenen Lehrkraft zuhören, Schüler:innen werden normalerweise durch Tests bewertet und erhalten normalerweise Noten, die ihnen sagen, wie viel besser oder schlechter sie im Vergleich zu ihren Altersgenossen sind, und Erwachsene sind diejenigen, die die Schule leiten und Entscheidungen treffen.

Immer mehr Pädagog:innen und Bildungsforschende stellen fest, dass die Art und Weise, wie Schulen gestaltet sind, immer mehr Probleme verursacht, für die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden von Schüler:innen und Lehrkräften und für das Erlernen der Fähigkeiten, die im 21. Jahrhundert wichtig sind. Die Art und Weise, wie Schulen gestaltet sind und wie Lehren und Lernen stattfindet, trägt tendenziell auch dazu bei, dass die psychologischen Bedürfnisse von Lernenden nach Autonomie (z. B. eigene Entscheidungen darüber treffen können, was man wann und wie lernen möchte), Kompetenz (z.B. das Gefühl haben, dass man Erfolg haben und etwas gut machen kann) und soziale Zugehörigkeit (z. B. das Gefühl, dass die Schulgemeinschaft ein Ort ist, an dem man respektiert und unterstützt wird) nicht in ausreichendem Maße erfüllt werden.

Ist die moderne Schulbildung also nicht gut an die „menschliche Natur“ angepasst? Oder unterscheidet sich unsere heutige Welt so sehr von unserer Evolutionsgeschichte, dass wir Schulen brauchen, so wie sie sind? Oder ist unsere Welt heute so anders als vor 100 oder 200 Jahren, dass wir Schulen und Bildungssysteme neu erfinden müssen?

A School Fit for Humans?

A questionnaire or interview protocol to capture conceptions about the Self-Directed Education model of school design

Können wir Schüler:innen und Lehrkräfte motivieren und befähigen, das Lehren und Lernen motivierender und erfolgreicher zu gestalten, sich um ihre psychische Gesundheit zu kümmern und Schulgemeinschaften zu Orten zu machen, an denen sich alle zugehörig fühlen, selbst wenn sie mit einem Bildungssystem konfrontiert sind, in dem Lehrplanvorgaben,  Einteilung in Klassen, standardisierte Tests und Benotungen als Voraussetzungen gelten?

Oder müssen wir die Struktur und die Regeln des Bildungssystems ändern, damit Schüler:inen und Lehrkräfte mehr Freiheit haben, wie sie ihr Lehren und Lernen gestalten und wie sie ihre Schulgemeinschaft organisieren wollen?

Welche Rolle können und sollten Technologien, Regulierungen, gesellschaftliche Normen, Medien spielen? Was können wir von der Vielfalt der Schulmodelle lernen, die es weltweit gibt?

Ressourcenverbrauch und Materialismus

Für lebende Organismen bedeutet der Zugang zu Ressourcen, überleben und sich vermehren zu können. Daher haben Organismen im Laufe der Evolution eine Reihe von Verhaltensweisen entwickelt, deren Funktion es ist, Ressourcen zu suchen und sich in deren Richtung zu bewegen – von der Chemotaxis bei Bakterien über das pflanzliche Wachstum in Richtung Licht bis hin zum Verstauen von Nüssen für den Winter.

Bei einigen Arten ist das Anhäufen von Ressourcen auch ein Merkmal, das das andere Geschlecht anzieht und daher höhere Fortpflanzungschancen bedeutet. Zum Beispiel ist der Laubenvogel für sein eigenartiges Balzverhalten bekannt – das Männchen baut eine Laube und schmückt diese mit allen möglichen glänzenden Objekten aus, um Weibchen anzulocken – je mehr Objekte und je heller und glänzender sie sind, desto besser. Man kann sich dieses entwickelte Verhalten des Laubvogels als das Verhaltens-äquivalent des Pfauenschwanzes vorstellen – beides sind Merkmale – eines ein Verhalten, das andere ein morphologisches, die sich im Laufe der Evolutionsgeschichte entwickelt haben, aufgrund ihrer Funktion, Weibchen anzulocken.

In unserer Art spielten mit dem Aufkommen des symbolischen Denkens und der materiellen Kultur materielle Symbole eine wichtige Rolle für die Kennzeichnung des sozialen Ranges und der sozialen Identität. In unserer sozialen und symbolischen Art bedeuteten Ressourcen also nicht nur Überleben und Fortpflanzung, sondern auch Status und Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe.

Darüber hinaus konnten oder mussten wir seit Beginn der Landwirtschaft und der Sesshaftigkeit immer mehr Ressourcen ansammeln und lagern – was normalerweise auch eine Art Status oder Ansehen in der Gemeinschaft darstellt – je mehr Ressourcen man hat, desto wichtiger wird man angesehen oder desto mehr wird man von anderen Menschen bewundert und wird von ihnen nachgeahmt.

Durch die kulturelle Evolution von Technologien und die globale Arbeitsteilung ist unsere Art nun in der Lage, alle Arten von Dingen zu produzieren, die wir oft ohne große Kosten für uns selbst erwerben können. Untersuchungen zeigen jedoch, dass nachdem wir genug haben, um unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen, das Ansammeln all dieser Dinge nicht zu mehr Glück und Lebenszufriedenheit führt. Gleichzeitig wirkt sich die Herstellung all dieser Produkte nachteilig auf unsere Ökosysteme aus.

Wir befinden wir uns also möglicherweise in einer Art Fehlanpassung zwischen unserem entwickelten Bestreben, Ressourcen und Statussymbole zu suchen und anzusammeln, und einer kulturellen Welt, die mit Dingen gefüllt ist, deren Herstellung nun das Überleben unserer Art und vieler anderer Arten bedroht. 

Wie können wir uns also anpassen? Können wir eine neue Art von sozialem Statussymbol oder Wert entwickeln, der von materiellen Objekten und Ressourcenverbrauch entkoppelt ist?

  • Changing Social Norms Could Create a Green Future. Mark van Vugt, January 27 2022, This View of Life Magazine.„The biggest obstacle to sustainable behavioral change lies in human nature. Every human being has a deep-seated need for status, and many activities that cause global warming are fueled by our desire for status.“

Können wir Menschen dazu motivieren und befähigen, ihr Konsumverhalten so zu gestalten, dass es weniger negative Auswirkungen auf den Ressourcenverbrauch und auf Ökosysteme hat, selbst wenn sie mit Umweltbedingungen konfrontiert sind, die solch ein Konsumverhalten erschweren?

Oder müssen wir auch die Umweltbedingungen so ändern, dass es Menschen leichter fällt, ihr Konsumverhalten so zu gestalten, dass es weniger negative Auswirkungen auf den Ressourcenverbrauch und auf Ökosysteme hat?

Können wir Menschen dazu motivieren und befähigen, ihren Lebensinhalt und ihr Selbstwertgefühl weniger von materiellen Dingen oder anderem Konsum abhängig zu machen, selbst wenn sie mit einer sozialen Umwelt konfrontiert sind, in der der Besitz und Konsum von diesen Dingen (Markenkleidung und Fast fashion, die neuesten Technologien, Reisen, Autos, usw.) als Maßstab für Ansehen und Erfolg gelten? 

Oder müssen wir auch die Umweltbedingungen so ändern, dass es Menschen leichter fällt, ihren Lebensinhalt und ihr Selbstwertgefühl weniger von materiellen Dingen oder anderem Konsum abhängig zu machen?

Welche Rolle können (und sollten) Technologien, die soziale Umwelt, gemeinsam etablierte Regulierungen (z.B. bezüglich Werbung, Steuern?), soziale Normen, Medien, Erziehung und Bildung spielen?

Entfremdung von der Natur

Menschen in vielen Gesellschaften und insbesondere in Städten verbringen immer mehr Zeit in Innenräumen und in „gebauten“ kulturellen Umgebungen mit Beton, Verkehr und Lärm. Die meisten Arbeiten werden drinnen erledigt, die Schule findet meistens in Klassenzimmern und Gebäuden statt, und Technologien ermöglichen oder verlocken uns, unsere Freizeit zunehmend drinnen statt draußen zu verbringen.

Während es für unser Wohlbefinden wichtig ist, Obdach zu haben und nicht den Elementen ausgesetzt zu sein, fanden viele Studien heraus, dass mangelnde Naturerfahrung negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und das Wohlbefinden haben kann und umgekehrt, dass Naturerfahrung positive Auswirkungen haben auf die physische und psychische Gesundheit des Menschen haben kann.

Wie können wir diesen Effekt von Naturerfahrung auf den Menschen erklären? (siehe auch Tinbergens Fragen)

Ist es also schlecht für uns, zunehmend in Städten zu leben und immer mehr Zeit in Innenräumen zu verbringen? Sind wir nicht an diese Art von Lebensstil angepasst? Oder können wir uns als kulturelle Lebewesen leicht anpassen, zumal Häuser ja auch unser Bedürfnis nach Obdach befriedigen? Was ist die richtige Mischung zwischen unserer Erfahrung in natürlichen und kulturellen Umgebungen?

Andere Wissenschaftler:innen schlagen vor, dass unsere Trennung von der Natur negative Auswirkungen für eine ökologisch nachhaltige Entwicklung hat, zum Beispiel weil wir die Auswirkungen unseres Verhaltens auf unsere natürliche Umwelt nicht direkt bemerken oder weil wir nicht lernen, die Natur zu schätzen. Einige Studien haben ergeben, dass Naturerfahrungen, beispielsweise in der Kindheit, einen Einfluss darauf haben können, inwieweit wir als Erwachsene versuchen, uns umweltfreundlich zu verhalten.

Verbreitung von Fehlinformationen und fake news

Für den größten Teil unserer Evolutionsgeschichte lebten wir in kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern und tauschten Informationen mit anderen Menschen durch direkten Kontakt und Kommunikation aus. Um zu entscheiden, wem wir glauben, haben wir unter anderem darauf geachtet, ob die Person in der Gemeinschaft respektiert wird, ihr vergangenes Verhalten und ihren Ruf sowie Zeichen in ihrem Verhalten, ob die Person glaubwürdig und wohlmeinend ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es sich um Informationen und Behauptungen handelt, die wir selbst nicht überprüfen können, und wenn wir der Person vertrauen müssen, die die Behauptungen aufstellt.

Informationen und Kommunikation im Internet geben uns oft nicht diese Art von Informationen, auf die wir im Laufe unserer Evolutionsgeschichte angewiesen waren, um zu entscheiden, was und wem wir glauben. Darüber hinaus handelt es sich aufgrund der Komplexität unserer Kultur bei der überwiegenden Mehrheit von Ideen und Behauptungen um solche, die wir nicht selbst überprüfen und testen können. Die meisten von uns können nicht individuell mit ihren eigenen Sinnen nachweisen, dass bestimmte Viren und Bakterien existieren oder eine bestimmte Krankheit verursachen, dass bestimmte Medikamente uns gesünder machen werden, dass Menschen zum Mond geflogen sind oder sogar, dass die Erde rund ist. Wir stützen unsere Entscheidungen darüber, wem wir glauben sollten, immer noch darauf, ob wir der Quelle vertrauen – ob die Quelle glaubwürdig, angesehen, sachkundig ist und in unserem Interesse handelt. Aber in der heutigen Kommunikation kann dieses Vertrauen leichter untergraben werden und diese Untergrabung ungestraft bleiben.

Daher ist es für Menschen schwieriger, falsche Informationen und Fehlinformationen von der Wahrheit zu unterscheiden. Die Verbreitung von Fehlinformationen wiederum kann die Funktionsgrundlagen großer Gesellschaften untergraben.

Können wir Menschen motivieren und befähigen, Informationen im Internet kritischer zu begegnen und alle Quellen zu überprüfen, auch wenn sie mit kulturellen und sozialen Bedingungen konfrontiert sind, in denen sich Fehlinformationen ungehindert verbreiten und immer schwieriger von Wahrheit zu unterscheiden sind (durch Dinge wie Deep Fake und KI)?

Oder müssen wir auch die Rahmenbedingungen ändern, damit die Wahrscheinlichkeit geringer ist, dass Menschen überhaupt Fehlinformationen und fake news ausgesetzt sind?

Welche Rolle können (und sollten) Technologien und Tech-Unternehmen, das gesellschaftliche Umfeld, gemeinsam etablierte Regulierungen (z. B. zur Zensur von Fehlinformationen und Faktenchecks?), soziale Normen, Medien und Bildung spielen?

Verschwörungstheorien

Zusammen mit vielen anderen Tieren haben wir im Laufe unserer Evolutionsgeschichte eine kognitive Fähigkeit namens agency detection entwickelt, die es uns ermöglicht, schnell Anzeichen in der Umgebung zu erkennen und zu interpretieren, dass Lebewesen mit bestimmten Zielen und Verhaltensweisen in der Nähe sind. Ein Rascheln im Gebüsch, ein seltsames Geräusch, ein Muster mit zwei Punkten? Wir schrecken schnell auf und interpretieren diese Zeichen als jemand, irgendein Wesen, ein Gesicht, das da ist. Denn für unsere Vorfahren und für viele Tiere kann es Leben oder Tod bedeuten, dies schnell zu bemerken, wenn es sich hierbei um ein Raubtier oder Feind handeln könnte, oder es kann bedeuten, dass sie hungern oder nicht, wenn es sich um Beutetiere handelt.

Wie viele andere Tiere verfügen auch wir über eine kognitive Fähigkeit namens Mustererkennung, die es uns erlaubt, aus wenigen Informationen auf Regelmäßigkeiten und Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in der Welt zu schließen. Dies ist sehr überlebenswichtig, da wir so besser auf die Bedrohungen und Gelegenheiten in der Umwelt reagieren und uns darauf vorbereiten können. Wenn zum Beispiel ein Ereignis auf das andere folgt, werden wir tendenziell schlussfolgern, dass die beiden Ereignisse irgendwie miteinander verbunden sind und eines das andere verursacht, anstatt zu denken, dass es nur Zufall sein könnte oder dass beide durch einen anderen, verborgenen Faktor verursacht werden könnten.

Die Populationsgröße unserer Art begann im Laufe unserer Evolutionsgeschichte allmählich zu wachsen. Konkurrenz und Konflikte zwischen Gruppen nahmen zu, und es scheint, dass unsere Art wahrscheinlich auch eine Art Gruppenmentalität und ethnozentrische Tendenzen entwickelt hat, die uns dazu bringen, uns um das Wohlergehen unserer eigenen Gruppe zu kümmern, und die uns dazu bringen, Bedrohungen oder Gefahren zu bemerken (oder sich einzubilden), die von anderen Gruppen ausgehen, welche uns Schaden zufügen könnten. Diese psychologischen Neigungen waren wahrscheinlich für das Überleben unserer Vorfahren von Vorteil.

Heutzutage leben die meisten von uns in großen und komplexen Gesellschaften, in denen viele verschiedene Arten von Gruppen existieren, deren Absichten und Verhaltensweisen oft schwer oder gar nicht direkt zu beobachten sind. Darüber hinaus sind heutige gesellschaftliche Probleme, wie der Klimawandel, eine Pandemie, soziale Ungleichheit, Korruption oder das Ergebnis einer Wahl, sehr komplex und es fällt uns schwer, die komplexen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die zu diesen Auswirkungen führen, wirklich zu erfassen und zu verstehen. Wir versuchen, sie zu erklären, indem wir die wenigen Informationen verwenden, die wir haben. Kombiniert mit unserer Sensibilität für die Ziele anderer Lebewesen sowie für potenzielle Bedrohungen durch andere Gruppen, schafft dies eine gute Grundlage für die Verbreitung von Verschwörungstheorien – eine Person oder eine kleine Gruppe von Menschen muss hinter all dem stecken und es absichtlich verursacht haben.

Wenn Menschen glauben, dass bestimmte Gruppen an einer Verschwörung beteiligt sind, um ihnen zu schaden, kann dies wiederum ihr Verhalten beeinflussen, wie z. B. Gewalt oder die Verweigerung von bestimmten politischen Maßnahmen oder Technologien, die ihnen eigentlich helfen würden (z. B. Impfstoffe).

Können wir Menschen motivieren und befähigen, sich ihrer Tendenzen bewusst zu sein, komplexe Phänomene auf einfache Erklärungen zu reduzieren und auf Absichten bestimmter Personengruppen zu?

Oder müssen wir auch die Umweltbedingungen ändern, damit es weniger wahrscheinlich ist, dass Menschen mit Verschwörungstheorien konfrontiert werden?

Welche Rolle können (und sollten) Technologien und Tech-Unternehmen, das gesellschaftliche Umfeld, gemeinsam etablierte Regulierungen (z. B. zur Zensur von Fehlinformationen und Faktenchecks?), soziale Normen, Medien und Bildung spielen?

Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus

Die Populationsgröße unserer Art begann im Laufe unserer Evolutionsgeschichte langsam anzusteigen. Konkurrenz und Konflikte zwischen Gruppen nahmen zu, und es scheint, dass unsere Art unter diesen Bedingungen eine Art Gruppenmentalität und ethnozentrische Tendenzen entwickelt hat. Diese ermöglichen es uns, automatisch und relativ unbewusst zu erkennen, wer zu „uns“ gehört, indem wir Ähnlichkeiten und Unterschiede in unserem Verhalten, Aussehen, Kleidung, unserer Sprache, unseren Überzeugungen, Vorlieben und symbolischen Markierungen bemerken. Diese Tendenzen geben uns auch das Gefühl, dass „unsere Gruppe“ in gewisser Weise besser ist als andere, lassen uns um das Wohlergehen unsere Gruppen sorgen und machen uns gleichzeitig misstrauisch, weniger aufgeschlossen oder weniger warmherzig gegenüber anderen. Diese psychologischen Tendenzen waren wahrscheinlich für das Überleben unserer Vorfahren von Vorteil, da sie kooperatives Verhalten innerhalb von Gruppen und Aggression gegenüber konkurrierenden Gruppen motivierten.

Denke einmal darüber nach, wie gerne du mit Menschen zusammen bist, die ähnliche Eigenschaften wie du haben, z.B. im Musikgeschmack, politischen Ansichten, Überzeugungen oder bestimmten Lebensgewohnheiten. Unsere ethnozentrischen Tendenzen müssen nicht etwa problematisch sein, wenn sie uns lediglich dazu bringen, bevorzugt Zeit mit bestimmten Menschen zu verbringen.

Unter bestimmten Umständen jedoch, insbesondere wenn die Wahrnehmung besteht, dass einige externe Gruppen eine „Gefahr“ oder „Bedrohung“ darstellen, kann diese Wahrnehmung Aggressionen gegenüber anderen Gruppen fördern.

In der heutigen globalisierten Welt, verbunden mit zunehmender Migration aufgrund von Kriegen, wirtschaftlichen Ungleichheiten, Naturkatastrophen oder Nahrungsmittelknappheit aufgrund des Klimawandels, finden wir uns  in immer vielfältigeren Gesellschaften wieder. Darüber hinaus sind die heutigen Probleme wie der Klimawandel globaler Natur, und wir müssen Wege finden, mit allen Menschen über kulturelle Unterschiede hinweg zusammenzuarbeiten. Wir mussten in unserer Evolutionsgeschichte nie auf dieser globalen Ebene zusammenarbeiten. Unsere ethnozentrischen Tendenzen könnten einem Fortschritt auf diesen Ebenen durchaus im Wege stehen.

Gleichzeitig sind viele Menschen mit Unsicherheiten und Zukunftssorgen konfrontiert. Politiker und Medien können unsere ethnozentrischen Tendenzen leicht ausnutzen, indem sie Angst oder Hass gegenüber einer Gruppe schüren, die als Ursache aller Probleme identifiziert wird.

Können wir Menschen dazu motivieren und befähigen, sich ihrer normalen ethnozentrischen Tendenzen bewusster zu werden und weniger anfällig für Botschaften zu sein, die Angst, Hass oder Aggression gegenüber Gruppen von Menschen schüren wollen? Können wir Menschen motivieren und befähigen, Wege zur Zusammenarbeit über kulturelle Unterschiede hinweg zu finden oder Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen zu erkennen, anstatt sich nur auf Unterschiede zu konzentrieren?

Oder müssen wir auch die Umweltbedingungen ändern – wie ein sicheres soziales Umfeld, Vertrauen und soziale Gerechtigkeit – damit Menschen nicht dazu neigen, anderen gegenüber feindlich eingestellt zu sein?  Müssen wir auch die Umweltbedingungen ändern, damit Menschen weniger Botschaften ausgesetzt sind, die Angst und Hass erregen sollen – welche Rolle spielt beispielsweise die Meinungsfreiheit gegenüber der Zensur von hasserfüllter Sprache? Oder müssen wir auch die Umgebungsbedingungen ändern, damit Menschen regelmäßiger mit Menschen unterschiedlicher Herkunft interagieren?

Welche Rolle können und sollten Technologien (wie Social Media-Plattformen), das soziale Umfeld,  soziale Normen, Regeln und Institutionen, Medien und Bildung spielen?

Soziale Ungleichheit

Während des größten Teils unserer Evolutionsgeschichte haben wir Menschen in kleinen Gruppen mit nicht mehr als ein paar hundert Menschen gelebt. Jegliches Leben in Gruppen birgt Konfliktpotenzial und die Herausforderung, Ressourcen zu verteilen oder Entscheidungen zu treffen. Wir Menschen haben soziale Verhaltensweisen entwickelt, die es uns ermöglichen, das soziale Leben in kleinen Gruppen zu regulieren, einschließlich unsere sozialen Emotionen und Vorlieben, moralischen Intuitionen wie Gerechtigkeitssinn, das Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie sowie eine sogenannte Norm-Psychologie – eine Tendenz, die Verhaltensweisen der Menschen um uns herum zu lernen und nachzuahmen, diese Verhaltensweisen als „normal“ zu betrachten und empört zu sein, wenn sich jemand auf eine Weise verhält, die nicht den sozialen Normen der Gruppe entspricht.

Die heute lebenden Jäger-und-Sammler-Gesellschaften geben uns einige Hinweise auf die soziale Organisation, in der unsere Art während des größten Teils unserer Geschichte gelebt hat. Jäger und Sammler leben in der Regel in einer egalitären sozialen Organisation, was bedeutet, dass es keine starke Hierarchie und eine gleichmäßige Verteilung von Ressourcen gibt. Versuche von Einzelnen, die Gruppen zu dominieren oder Ressourcen zu horden, werden von allen anderen in der Gruppe unterbunden und bestraft.

Mit der Landwirtschaft und Sesshaftigkeit, und der damit einhergehenden Möglichkeit, wertvolle Ressourcen zu lagern und anzusammeln, der Arbeitsteilung, den ersten Städten, begann unsere Gruppengröße von einigen Tausend auf viele Tausend Menschen zu wachsen. Wie kann das Leben in solchen großen Gruppen geregelt werden? Es scheint, dass mit der Zunahme der Gruppengröße die Mechanismen der sozialen Organisation, die in kleinen Jäger-Sammler-Gruppen gut funktionierten, in einer größeren Gruppe nicht mehr so ​​gut funktionierten und mit zunehmender Gruppengröße eine Ungleichheit in Bezug auf Macht und Besitztum auftrat.

Wissenschaftler:innen versuchen, die Faktoren besser zu verstehen, die zu dieser Abkehr von egalitären Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften und zur Ausbreitung von sozialer Ungleichheit im Laufe unserer Geschichte führten. Ein solcher Faktor scheint die Möglichkeit zu sein, wertvolle Ressourcen zu speichern, anzusammeln und zu verteidigen, was mit Beginn der Sesshaftigkeit und der Landwirtschaft besonders wichtig wurde. Ein weiterer Faktor scheint die Vererbung oder Weitergabe dieser Ressourcen an Nachkommen zu sein (anstatt sie an alle in der nächsten Generation umzuverteilen). Ob Vermögen in einer Bevölkerung vererbt oder umverteilt wird oder nicht, und in welchem Umfang, wird von mehr oder weniger formalen sozialen Normen und Institutionen bestimmt (wie Eigentumsrechten, Steuervorschriften für unterschiedliche Vermögensquellen, Bestehen oder Fehlen von Sozialhilfeprogrammen, z.B. eine staatliche Gewährleistung von Bildung und Gesundheitsversorgung für alle Bürger:innen).

Diese Faktoren zusammen führten zu einer zunehmenden Ungleichheit mit Beginn der Jungsteinzeit, wie in einer Rückkopplungsschleife – je mehr Reichtum man hat, desto mehr Zugang zu Macht und Bildung hat man und desto mehr Reichtum kann man anhäufen (und an seine Nachkommen weitergeben). So werden die Reichen reicher und die Armen ärmer.

Dennoch ist uns Menschen Gerechtigkeit und soziale Gleichheit weiterhin sehr wichtig. Einige Wissenschaftler:innen fanden heraus, dass das Leben unter Bedingungen hoher sozialer Ungleichheit das Wohlbefinden der Menschen beeinträchtigt.

Richard Wilkinson: How economic inequality harms societies.

Der Sozialwissenschaftler Richard Wilkinson präsentiert seine Forschungsergebnisse über die Auswirkungen von sozialer Ungleichheit auf soziale und psychische Aspekte menschlichen Wohlbefindens.

Transkript Deutsch, Transcript English

Diskussionsfragen:

  • Welche Messgrößen des sozialen und psychischen Wohlbefindens hängen laut dem Forscher Richard Wilkinson mit dem Grad der Ungleichheit in einem Land zusammen?

  • Was sind einige Erklärungen dafür, warum wirtschaftliche Ungleichheit diese Auswirkungen auf das Wohlbefinden von Menschen hat?

  • Was können wir als Einzelne und als Gesellschaft tun, um die Gleichstellung innerhalb und zwischen Ländern zu verbessern?

Können wir Menschen dazu befähigen, sich der Rolle von sozialer Gleichheit für menschliches Wohlbefinden und für die Stabilität ihrer Gesellschaft bewusst zu werden? Können wir Menschen dazu motivieren, einen Beitrag für mehr soziale Gleichheit und Gerechtigkeit in ihrer Gesellschaft zu leisten, selbst wenn dies möglicherweise mit einigen (finanziellen oder anderen) Verlusten für sie selbst verbunden ist?

Welche Rolle können und sollten Technologien, das soziale Umfeld,  soziale Normen, Regeln und Institutionen (insb. Steuern, Sozialhilfe usw.), Medien und Bildung spielen?

Literaturangaben

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