Menschliche Merkmale wie den aufrechten Gangg können wir recht einfach mit anderen Arten vergleichen – die Ähnlichkeiten und Unterschiede sind klar anhand des Verhaltens und äußerlich sichtbaren körperlichen Merkmalen erkennbar. Auch die Evolution dieses Merkmals in unserer Art können wir gut nachvollziehen: Schimpansen gehen manchmal aufrecht, z.B. um Nahrung zu tragen, und wir können uns gut vorstellen, dass dieses Verhalten unter savannenartigen Umweltbedinungen Vorteile für das Überleben und die Fortpflanzung bringt, und sich so durch natürliche Selektion im Verlauf vieler Generationen in einer Population ausbreiten kann.

Ein Schimpanse chillt im Leipziger Zoo. Was geht wohl in seinem Kopf vor?

Doch bei geistigen Fähigkeiten wird es schon schwieriger, menschliche Fähigkeiten mit den Fähigkeiten von anderen Arten zu vergleichen. Gleichzeitig sind dies Fragen, die uns oft am meisten faszinieren, v.a. wenn wir unsere nächsten Verwandten beobachten, und uns wundern – Was denken sie wohl gerade? Denken sie überhaupt? Was ist eigentlich „Denken“? Was fühlen sie? Was ist ihnen wichtig? Machen sie sich Sorgen um die Zukunft, haben sie Hoffnungen? Kommunizieren sie mit ihren Artgenossen, so wie wir Menschen miteinander kommunizieren? Reden sie über gestern und morgen, beschweren sie sich über das Verhalten von Gruppenmitgliedern, wundern sie sich über uns Menschen, schmieden sie Pläne, erzählen sie sich von ihren Erfahrungen, Vorstellungen, Gefühlen?

Wir können das Verhalten, was sich im Gehirn abspielt, nicht von außen sehen (Forscher zählen geistige Prozesse wie das Denken und Fühlen auch zu den Verhaltensweisen, d.h., etwas, das der Körper tut, nur dass wir sie eben von außen nicht sehen können). Wie können wir dann herausfinden, was andere Tierarten denken und fühlen, und ob sie z.B. ähnliche Gedanken oder Vorstellungen haben, wie wir Menschen?

Mithilfe von neueren Untersuchungsmethoden, wie die funktionelle Magnetresonanztomographie, können wir zumindest die Aktivität der Nervenzellen im Gehirn beobachten, während Lebewesen bestimmte Dinge tun – welche Hirnregionen sind wie stark aktiv, wie sind sie miteinander vernetzt? Und wie ähneln und unterscheiden sich die Gehirnaktivität von Menschen und anderen Arten, während sie ähnliche Dinge tun?

Eine andere Methode, die Wissenschaftler nutzen, um die geistigen Fähigkeiten von Menschen und anderen Arten zu vergleichen, ist die Beobachtung von Verhaltensweisen, während sie bestimmte Aufgaben erledigen. Wenn sich z.B. Schimpansen oder Kinder in einem bestimmten Alter an gestern erinnern können oder an morgen denken können, dann müssten sie in der Lage sein, eine bestimmte Aufgabe zu lösen, die diese geistige Fähigkeit erfordert – z.B. ein Werkzeug oder Nahrung für später aufheben, weil sie es dann vielleicht benötigen.

Wir können jedoch auch ohne großen Aufwand zunächst einmal selbst unseren eigenen Geist beobachten und „erforschen“: Welche unterschiedlichen Dinge tut er überhaupt? Und warum tut er diese unterschiedlichen Dinge? Welche dieser unterschiedlichen Dinge haben wir mit anderen Tieren gemeinsam, und welche nicht? Mit welchen kommen wir auf die Welt, und welche entwickeln sich erst im Laufe unseres Lebens?

Wissenschaftler haben sich verschiedene Metaphern und Analogien ausgedacht, um die verschiedenen Verhaltensweisen in unserem Kopf zu beschreiben und voneinander zu unterscheiden. Z.B.

Schnelles Denken, Langsames Denken

Wenn wir unsere Wahrnehmung und unser Denken genauer betrachten, stellen wir fest, dass einiges davon recht automatisch und mühelos, ohne unsere Anstrengung stattfindet. Andere Situationen erfordern unsere bewusste Konzentration und ermüden uns schnell. So fühlt sich z.B. die Lösung der Aufgabe “2 + 2” für uns ganz anders an als die Lösung der Aufgabe “17 * 23”.

In der Psychologie werden diese unterschiedlichen Prozesse oft grob in zwei Denkweisen eingeteilt – ein schnelles System 1, und ein langsames System 2. Oft sind wir der Meinung, unser System 2 sei in Kontrolle, tatsächlich beherrscht System 1 unsere Wahrnehmung, unser Denken und Handeln. Denn System 1 hilft uns, in einer komplexen, dynamischen Welt schnell und mühelos zu navigieren und zu überleben.

Der israelisch-amerikanische Psychologe Daniel Kahneman hat die Erkenntnisse über die Rolle von System 1 und System 2 in unserer Wahrnehmung in seinem 2011 erschienenen Buch Thinking, Fast and Slow (in deutscher Version: Schnelles Denken, langsames Denken) populär gemacht.

Geistige Verzerrungen und ihre Funktionen

In dieser Unterrichtseinheit lernen die Schüler:innen das Konzept kognitiver Verzerrungen sowie eine Reihe wichtiger kognitiver Verzerrungen kennen, die unser Wohlbefinden und unsere sozialen Interaktionen beeinflussen können, identifizieren ihre Ursachen in der Evolutionsgeschichte, insbesondere ihre Funktionen für das Überleben und überlegen, wie sie mit kognitiven Verzerrungen umgehen können.

Schnelles Denken oder langsames Denken

In dieser Unterrichtseinheit sortieren Schüler:innen ihre eigenen Denkprozesse in eher langsame und schnelle Denkprozesse. Darauf aufbauend erlangen sie das Verständnis, dass unser Denken durch Erfahrung geprägt wird, so dass Dinge, die wir oft und regelmäßig tun, über die Zeit einfacher werden.

Schnelles Denken führt zu einer verzerrten oder vereinfachten Wahrnehmung der Realität. Leider können wir die meisten dieser Prozesse, per Definition, nicht sehen, da sie unbewusst ablaufen. Doch optische Illusionen erlauben uns, dem Schnellen Denken „bei der Arbeit“ zuzusehen. Dabei können wir darüber reflektieren, warum diese automatischen Verzerrungen überhaupt stattfinden – haben sie eine Funktion? Erlauben sie uns (und erlaubten sie unseren Vorfahren), in der Umwelt zurechtzukommen, oder sind sie nutzlose „Softwarefehler“ unseres Gehirns?

Die Schachbrett-Illusion. Quadrat A und B haben denselben Farbton. Bildquelle: Edward H. Adelson. CC BY-SA 4.0
Für unser Navigieren in der Welt ist es hilfreicher, Hell-Dunkel-Kontraste wahrzunehmen statt absolute Farbtöne.

Aufnahme einer Bergkette auf der Marsoberfläche. Wir erkennen unwillkürlich ein Gesicht.
Für unser Navigieren in der Welt ist es hilfreich, das Vorhandensein von anderen Lebewesen (z.B. Raubtiere!) und Mitmenschen schnell zu erkennen. Dabei war es für unsere Vorfahren besser, auf „Nummer sicher“ zu gehen, und Gesichter schon bei kleinsten Anzeichen als solche zu interpretieren: denn kein Gesicht zu sehen, wo eins ist, kann tödlich sein!

„Kanizsa Triangle“ – Wir „vervollständigen“ das Bild und sehen Linien, wo keine sind.
Für unser Navigieren in der Welt ist es hilfreich, selbst lückenhafte Informationen in bedeutungsvolle Informationen, regelmäßige und vertraute Muster umzuwandeln (ähnlich wie bei Gesichtern, siehe das Bild in der Mitte).

„Munker Illusion“ – Alle Kugeln haben die gleiche Farbe (braun). Bildquelle und Erklärung: http://www.cs.utep.edu/novick/colors/explanation/

Warum schnelles Denken?

Die geistigen Aktivitäten von “System 1” haben wir mit vielen Tierarten gemeinsam, und wir werden mit einigen dieser Fähigkeiten geboren. Andere Intuitionen entwickeln wir im Laufe unserer Entwicklung durch wiederholte Reize und Übung. Deswegen können wir das Lesen von Wörtern in unserer Muttersprache oder die Lösung der Aufgabe “2+2” kaum unterdrücken, obwohl es eine Zeit gab, in der dies für uns neu und anstrengend war.

Die Funktion dieser unbewussten und automatischen Intuitionen für uns und andere Tiere ist es, die Regelmäßigkeiten unserer sozialen und natürlichen Umwelt schnell zu lernen, sie schnell und ohne viel Energieaufwand wahrzunehmen, und Handlungen schnell auszuführen. System 1 ermöglicht uns, in einer komplexen, dynamischen Welt zu navigieren und zu überleben. Vereinfachte und verzerrte Wahrnehmungen der Umwelt schleichen sich ein, weil sie in der Regel keine negativen Auswirkungen, und oft positive Auswirkungen für uns haben. So können wir nicht verhindern, dass wir manchmal Gesichter sehen, wo keine sind, und auf andere optische Illusionen hereinfallen. Alles was wir tun können, ist zu lernen, wann System 1 unsere Wahrnehmung der Welt verzerrt und vereinfacht, und unserer Wahrnehmung nicht immer blind zu vertrauen.

Andere Prozesse von System 1 können wir im Laufe der Zeit ändern und einüben, indem wir uns mithilfe von System 2 anstrengen. So können wir Menschen, wenn wir wollen, zu allen möglichen Experten werden!

“Zu den Funktionen von System 1 gehören angeborene Fähigkeiten, die wir mit anderen Tieren gemeinsam haben. Wir werden mit der Fähigkeit geboren, unsere Umwelt wahrzunehmen, Gegenstände zu erkennen, unsere Aufmerksamkeit zu steuern, Verluste zu vermeiden und uns vor Spinnen zu fürchten. Andere mentale Aktivitäten werden durch lange Übung zu schnellen automatisierten Routinen.”

Ursache-Wirkungs-Diagramm zur Evolution von "System 1"

Die Evolution von System 1 begann relativ früh in der Geschichte des Lebens mit der Fähigkeit für assoziatives Lernen.

Warum langsames Denken?

Die geistigen Prozesse von System 1 und System 2 sind nicht strikt voneinander trennbar – viele Prozesse sind mehr oder weniger automatisch, mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger flexibel. Andere Tierarten, z.B. Primaten und insbesondere Menschenaffen, mögen bestimmte Fähigkeiten für “langsames Denken” haben. Dennoch scheinen die Aktivitäten von System 2 besonders bei uns Menschen ausgeprägt zu sein. Sie entstanden vermutlich im Laufe unserer Evolutionsgeschichte, weil bestimmte geistige Fähigkeiten, wie Kontrolle und Unterdrückung von emotionalen Impulsen in sozialen Situationen, Konzentration auf Aktivitäten wie das Erlernen und Lehren von komplexer WerkzeugherstellungKontrolle von Körperbewegungen, für das Überleben unserer Vorfahren immer wichtiger wurden.

System 2 ist an die Aktivität der Großhirnrinde gebunden und wir kommen nicht damit auf die Welt – es entwickelt sich im Laufe unseres Lebens.

Oft sind wir der Meinung, unser System 2 (unser “Ich”, unsere “Absicht”, unser “Wille”) sei in Kontrolle, schließlich sind wir uns meist nur über System 2 bewusst. Tatsächlich beherrscht aber System 1 unsere Wahrnehmung, unser Denken und Handeln, denn System 2 verbraucht viel Energie und ist anstrengend! Beobachte einmal, wie oft und in welchen Situationen du und dein Geist im Laufe eines Tages von System 1 und System 2 Gebrauch machen.

“Die Operationen von System 2 gehen oftmals mit dem subjektiven Erleben von Handlungsmacht, Entscheidungsfreiheit und Konzentration einher. (...) Wenn wir an uns selbst denken, identifizieren wir uns mit System 2, dem bewussten, logisch denkenden Selbst, das Überzeugungen hat, Entscheidungen trifft und sein Denken und Handeln bewusst kontrolliert.”

Ursache-Wirkungs-Diagramm zur Evolution von "System 2"

Das Überleben und die Fortpflanzung unserer Vorfahren hingen zunehmend von verschiedenen geistigen und sozialen Fähigkeiten ab. Kooperative Nahrungsbeschaffung und Kinderfürsorge, das Lernen und Lehren von Werkzeugherstellung, die Vermeidung und Lösung von Konflikten im Gruppenleben erforderten zunehmend, dass Individuen ihre emotionalen Impulse kontrollieren konnten, sich auf etwas konzentrieren konnten, ihre Aufmerksamkeit und Strategie flexibel lenken konnten und mehrere Dinge gleichzeitig im Kopf behalten konnten.

Ein Fahrrad zu fahren ist eine komplexe Aufgabe, aber wenn wir es erst einmal gemeistert haben, können wir es ziemlich einfach und ohne Konzentration tun – was früher System 2- Arbeit war, wird zu System 1. Dann wird es für unser Gehirn jedoch schwer, ein Fahrrad zu fahren, das ganz anders funktioniert.

Welche Rolle spielen System 1 und System 2 dabei, dass wir im Laufe unseres Lebens verschiedene Dinge lernen und „verlernen“ können?

Verkehrt-Herum-Fahrrad

In diesem Video geht es um ein Fahrrad, das anders als normale Fahrräder funktioniert. Es ist nicht so leicht, dieses andere Fahrrad fahren zu lernen, doch mit viel Anstrengung und Übung kann man es schaffen.

Carol Dweck spricht über „Growth Mindset“. Growth-Mindset (im Gegensatz zum „Fixed Mindset“) steht für die Grundhaltung oder Überzeugung, dass bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten eines Menschen nicht festgelegt oder angeboren sind, sondern dass man durch Lernen, Erfahrung und Anstrengung seine eigenen Fähigkeiten fortlaufend verbessern kann, oder aus Fehlern lernen kann. Die Metaphern des schnellen und des langsamen Denkens können helfen zu verstehen, warum es manchmal anstrengend wird, neue Dinge zu lernen.

Laut Carol Dweck ist die Förderung eines Growth-Mindsets in SchülerInnen eine bedeutende Aufgabe der Schulbildung.

„Whether you think you can, or you think you can’t—you’re right.“

– Henry Ford

Moralische Geschmacksnerven

Eine Erkenntnis der Psychologie ist, dass auch unsere Überzeugungen zu ethisch-moralischen Themen größtenteils vom “schnellen Denken” beeinflusst werden. Menschen neigen dazu, durch Intuitionen und Emotionen geleitet schnell zu entscheiden, was moralisch “richtig” und “falsch” ist, und erst danach durch bewusstes, rationalisierendes Denken Gründe zu finden, die ihre anfänglichen intuitiven Reaktionen unterstützen.

Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt vergleicht unsere moralischen Intuitionen mit unseren Geschmacksnerven. Diese Analogie kann helfen, den evolutionären Ursprung und die individuelle Entwicklung der moralischen Intuitionen, sowie die Variation in „moralischen Geschmäckern“ unter Menschen zu verstehen.

Moralische Geschmacksnerven

In dieser Unterrichtseinheit erkunden Schüler:innen die Ursachen und Funktionen unserer moralischen Intuitionen sowie Möglichkeiten, sich flexibel auf sie zu beziehen, indem sie sich mit einer Analogie zu unseren Geschmacksknospen beschäftigen.

“Gerecht” bedeutet nicht immer das gleiche

Ein Experiment mit Kindern aus drei Kulturen, anhand dessen wir verschiedene Formen von Gerechtigkeitssinn erörtern können. Ausgehend von den Ergebnissen der Experimente diskutieren Schüler:innen anschließend, wie wir die Erkenntnisse für die Schaffung einer gerechteren Gemeinschaft einsetzen können.

Mentales Zeitreisen

Wenn wir unsere Wahrnehmung und unser Denken genauer betrachten, stellen wir auch fest, dass wir ziemlich oft „woanders sind“. Wir sitzen zwar im Zimmer, laufen die Straße entlang oder liegen im Bett, aber im Geist schweifen wir zeitlich und räumlich umher: wir erinnern uns an eine Situation von gestern oder vom letzten Jahr und spielen sie ab wie einen Film, stellen uns eine Situation von morgen oder in 20 Jahren vor, und malen uns alle möglichen Situationen aus, die gar nichts mit unserer Wahrnehmung der Welt im „Hier-und-Jetzt“ zu tun haben.

Wissenschaftler nennen dieses geistige Verhalten „mentales Zeitreisen“. Warum haben wir dieses Verhalten? Können andere Tierarten das auch? Warum, oder warum nicht?

Keiner von uns kann sich an unseren ersten Geburtstag erinnern. Doch wenn du in dem Alter bist, dass du diesen Text lesen kannst, bestimmt das mentale Zeitreisen wahrscheinlich einen Großteil deiner alltäglichen Erfahrung, manchmal auf negative und manchmal auf positive Weise. Wie kommen wir im Laufe unseres Lebens zu diesem Verhalten?

Diese Fragen werden zwar immer noch diskutiert, aber die meisten Wissenschaftler, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, sind der Meinung, dass sich mentales Zeitreisen in unserer Art besonders stark ausgebildet hat. Außerdem kommen wir nicht damit auf die Welt – Kinder ab dem Alter von ca. 4 Jahren fangen zunehmend an, Vorstellungen von der Vergangenheit und der Zukunft zu haben, und diese in ihr Handeln einzubeziehen. Heute haben wir dank historischer Überlieferungen, Büchern, Kalendern, Wissenschaft und anderen kulturellen Wissens eine Vorstellung davon, dass es eine Vergangenheit vor hunderten, tausenden, Millionen und gar Billionen von Jahren gab, und eine Vorstellung darüber wie sich die Welt in Zukunft verändern könnte. Die Beziehungen mit anderen Menschen, Sprache und kulturelles Wissen sind scheinbar wichtige Faktoren, die bei der Ausbildung dieser Fähigkeiten für mentales Zeitreisen eine Rolle spielen.

"Was ist in deinen Taschen? Es ist gut möglich, dass du Schlüssel, Geld, Kosmetik, ein Schweizer Taschenmesser oder andere Hilfsmittel dabei hast, weil sie an einem späteren Zeitpunkt nützlich sein könnten. Menschen haben die allgegenwärtige Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen, die Zukunft zu planen und zu gestalten (auch wenn wir oft etwas falsch machen). Diese Fähigkeit muss lange Zeit für unser Überleben von großer Bedeutung gewesen sein (...) und könnte eine wichtige Rolle in der geistigen Entwicklung des Menschen gespielt haben. Steinerne Werkzeuge und Speere aus archäologischen Funden deuten darauf hin, dass sich die Vorfahren des modernen Menschen bereits vor Hunderttausenden von Jahren auf die Zukunft vorbereiteten. (...)

Natürlich verhalten sich andere Tiere auch auf eine Weise, die ihre Überlebenschancen in der Zukunft erhöhen. In vielen Arten haben sich durch Evolution Instinkte entwickelt, die sie veranlassen, zum Beispiel Nester zu bauen oder Nahrung anzusammeln. Außerdem ermöglicht das Lernen es einzelnen Individuen, statt einer ganzen Spezies, Regelmäßigkeiten anhand von Auslösereizen vorherzusagen (z. B. wenn ein Geruch das Vorhandensein einer Nahrungsquelle signalisiert). (...)

Menschenaffen scheinen sogar in der Lage zu sein, sich Situationen vorzustellen, die sie nicht direkt wahrnehmen können. Sie können auch einfache Hilfsmittel zur Lösung von naheliegenden Problemen herstellen, z. B. die Herstellung eines geeigneten Stocks, um Nahrung zu erlangen, die sonst unerreichbar wäre (...). Es gibt jedoch wenig Anzeichen dafür, dass Tiere über die weiter entfernte Zukunft nachdenken.”

Wenn eine Gruppe von Homo erectus ein totes oder schwaches Tier sichtete, so war es von großem Vorteil, Steine zum Werfen und gute Werkzeuge bereit zu haben, um Konkurrenten und Fressfeinde abzuwehren und schnell wertvolles Fleisch vom Kadaver zu schneiden.

Die Herstellung komplexerer Werkzeuge brauchten immer mehr Zeitaufwand und immer mehr Arbeitsschritte – für die Herstellung eines Faustkeils braucht es etwa 45 Minuten. Es reichte nicht aus, mit der Herstellung eines Faustkeils anzufangen, oder nach brauchbaren Steinen zum Werfen zu suchen, wenn man gerade eine Antilopenherde oder einen frischen Kadaver sichtet, oder wenn sich ein Löwe nähert, oder wenn man gerade Hunger bekam. Das Werkzeug oder die Waffe mussten zu dem Zeitpunkt bereits fertig und griffbereit sein! Diejenigen, die Steine und gute Werkzeuge “für alle Fälle” bereit hatten, würden bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen haben als andere.

Dies ist nur einer der vermuteten Selektionsdrücke im Leben unserer Vorfahren, unter denen gute Fähigkeiten für mentales Zeitreisen vorteilhaft waren.

  • Unterrichtsmaterial: Experimente zur kindlichen Entwicklung des mentalen Zeitreisens (in Bearbeitung)

  • Unterrichtsmaterial: Lesetext zur Evolution des mentalen Zeitreisens (in Bearbeitung)

Der Wahrnehmer, der Entdecker und der Ratgeber

Einige Psycholog:innen haben sich die Metaphern des „Wahrnehmers, „Entdeckers“ und des „Ratgebers“ ausgedacht, um weitere verschiedene Verhaltensweisen unseres Gehirns voneinander zu unterscheiden.

Der Wahrnehmer/der Beobachter

  • Funktion: körperliche, psychische und Umweltreize im Hier-und-Jetzt wahrnehmen, um gegebenenfalls darauf reagieren zu können

  • Er ist evolutionsgeschichtlich sehr alt, je nachdem wie man “Sinne” und “Wahrnehmung” definiert.

  • Mit dem Wahrnehmer werden wir geboren, aber er entwickelt sich auch im Laufe unseres Lebens, indem wir mehr und mehr Dinge wahrnehmen können.

  • Der Wahrnehmer ist automatisch (System 1), kann aber auch bewusst von uns gesteuert werden (System 2). Zum Beispiel können wir, wenn wir wollen, genau JETZT unseren linken Fuß wahrnehmen (oder ein anderes Körperteil), oder auf Geräusche aus der Umgebung achten, oder auf unseren Atem achten, oderbeobachten, ob unser Geist gerade auch „woanders“ ist (siehe mentales Zeitreisen), oder wir können beobachten, was unsere innere Stimme (der „Ratgeber“, siehe unten) uns gerade sagen will. Unser Wahrnehmer selbst reist also nicht in Raum und Zeit umher, sondern nimmt immer alles im Hier-und-Jetzt wahr.

Der Wahrnehmer oder Beobachter hat mit unserer Fähigkeit für „Achtsamkeit“ ( engl. „mindfulness“) zu tun.

Achtsamkeit ist ein Begriff, von dem viel geredet wird, auch in Bildung für nachhaltige Entwicklung.

Aber was genau ist „Achtsamkeit“? Was verbindest du mit diesem Begriff? Wie würdest du ihn definieren?

In diesem video spricht der Psychologe Russ Harris über fünf „Mindfulness Myths“, oder Missverständnisse über Achtsamkeit.

Hat sich dein eigenes Verständnis von Achtsamkeit verändert, nachdem du das Video gesehen hast?

Der Entdecker

  • Funktion: Der Entdecker hilft uns, neue Dinge und Verhaltensweisen auszuprobieren und zu lernen, und uns so im Laufe unserer Entwicklung zu entfalten.

  • Den Entdecker hat seinen Ursprung vor ca. 500 Mio Jahren und wir haben ihn mit vielen Tieren gemeinsam. Menschenaffen haben einen besonders aktiven Entdecker.

  • Mit dem Entdecker werden wir geboren. Die Tatsache, dass wir Menschen gerne spielen, zeugt von der Aktivität, Neugier und dem Vorstellungsvermögens unseres Entdeckers. In der Kindheit und Jugend ist unser Entdecker besonders aktiv und risikofreudig. Auch im Erwachsenenalter spielen wir noch gerne, haben Hobbies, verreisen, lesen Bücher, und wollen neue Dinge ausprobieren, einfach weil uns der Entdeckermodus Spaß macht. Jeder von uns hat seine eigene Entdeckerlaune, die uns nach gewissen Aktivitäten drängt, und die bei manchen mehr, bei manchen weniger ausgeprägt ist.

  • Der Entdecker kann vom Wahrnehmer und Ratgeber Gebrauch machen, und kann in Raum und Zeit umherreisen.

siehe auch: Kreativität

Der Ratgeber

  • Funktion: Erfahrungen und Gelerntes mithilfe von Sprache nutzen (unsere innere Stimme), um aus ihnen zu lernen oder von ihnen beraten zu werden, ohne dass man etwas direkt „in der Welt“ ausprobieren muss.

  • Den Ratgeber haben vielleicht nur wir Menschen.

  • Der Ratgeber entwickelt sich im Laufe unseres Lebens durch Beziehungen mit anderen Menschen und Erlernen von Sprache. Die Dinge, die Menschen uns im Laufe unserer Entwicklung sagen bzw. auf andere Weise kommunizieren, und die wir anderen Menschen sagen/kommunizieren, werden zu dem Repertoire, aus welchem unserer Ratgeber fortlaufend Gedanken zusammenbaut.

  • Der Ratgeber ist oft automatisch (System 1), kann aber auch zu gewissen Grad bewusst von uns gesteuert werden (System 2). Er reist oft in Raum und Zeit umher.

Die Verhaltensweisen unserer geistigen Welt sind nicht immer hilfreich

Während all diese Verhaltensweisen oder Charaktere in unserer geistigen Welt ihre Funktion haben und uns dabei helfen, für unser Überleben und Wohlbefinden wichtige Handlungen auszuführen, sind sie manchmal nicht sehr nützlich. Zum Beispiel:

  • Schnelles Denken kann uns verzerrte Informationen liefern, die uns nicht helfen oder zu sozialen Konflikten führen.

  • Das mentale Zeitreisen kann uns immer wieder negative Erlebnisse aus der Vergangenheit erleben lassen, oder zu viel Sorgen um die (nicht-reale) Zukunft erzeugen. Es kann unser Wohlbefinden und Handeln im Hier-und-Jetzt auf eine Weise beeinflussen, die nicht hilfreich ist.

  • Der Ratgeber (die innere Stimme) kann uns zu viel unnütze Ratschläge liefern oder zu viele negative Bewertungen mitteilen (über uns selbst, unser Leben, unsere Umwelt), und kann unseren „Wahrnehmer“ und „Entdecker“ (d.h. unsere Fähigkeit und Motivation, die Welt wahrzunehmen und neue Dinge auszuprobieren) zu sehr einschränken oder unterdrücken. Er kann unser Wohlbefinden und Handeln im Hier-und-Jetzt auf eine Weise beeinflussen, die nicht hilfreich ist.

„Although we humans have gained the ability to extract ourselves from the physical jungle, through language we are now recreating the danger of the jungle in our heads again and again.“

Ciarrocchi & Hayes (2018, p. 118)

"I've lived through some terrible things in my life, some of which actually happened.”

Ein kurzer Film (in englisch) über die Funktion und Evolution des menschlichen Geistes. Mögliche Diskussionsfragen:

  • Welche der oben aufgeführten unterschiedlichen Verhaltensweisen unseres Geistes erkennst du in diesem Video wieder? (langsames Denken, schnelles Denken, mentales Zeitreisen, Wahrnehmer, Entdecker, Ratgeber)

  • Welche Funktionen erfüllen diese Prozesse unseres Geistes? Was war ihr Anpassungswert im Laufe unserer Evolutionsgeschichte?

  • Warum könnten diese Anpassungen unter den heutigen (sozialen) Umweltbedingungen zu Problemen für menschliches Wohlbefinden führen? (siehe auch: Fehlanpassungen?)

  • Welche Möglichkeiten seht ihr, diese negativen Folgen abzumindern? Was kann man als Individuum tun? Was können/sollten wir als Gesellschaft tun? Was kann/sollte Bildung tun?

Ein kurzer Film (in englisch) über die Metapher eines Radios für unseren „Ratgeber“. Unseren Ratgeber mehr wie ein Radio wahrzunehmen, kann uns dabei helfen, etwas flexibler auf ihn zu reagieren und seine manchmal negativen Folgen für unser Verhalten und Wohlbefinden zu reduzieren.

Eine weitere Metapher, die uns dabei helfen kann, alle die Dinge, die in unserem Körper und Geist stattfinden, auf achtsame und flexible Weise wahrzunehmen.

siehe auch:

Fehlanpassung

Materialien und Informationen zum Konzept der evolutionären Fehlanpassung und dessen potenzielle Rolle in Herausforderungen der nachhaltigen Entwicklung

Menschliche Bedürfnisse, Werte, Wohlbefinden

Unterrichtsmaterialien zur menschlichen Evolution Menschliche Bedürfnisse, Werte, Wohlbefinden Was brauchen Menschen? Was ist deiner Meinung nach wichtig für alle oder die meisten Menschen, um ein

Symbole und Sprache

Unterrichtsmaterialien zur menschlichen Evolution Symbole und Sprache Die menschliche Sprache und unsere Fähigkeit zum symbolischen Denken gehören wohl zu den menschlichen Eigenschaften, die am schwierigsten

Emotionen

Unterrichtsmaterialien zur menschlichen Evolution Emotionen Was ist eine Emotion? Wie würdest du den Begriff definieren? Was zeichnet Emotionen aus? Was sind Beispiele für Emotionen? Was

Literaturangaben

  • Ciarrochi, J & Hayes, L. (2018). Shaping DNA (Discoverer, Noticer, and Advisor): A Contextual Behavioral Science Approach to Youth Intervention. In: Wilson, D.S. & Hayes, S.C. Evolution and Contextual Behavioral Science (S. 107-124). Oakland: Context Press.
  • Hayes, L. L., & Ciarrochi, J. (2015). The Thriving Adolescent. Using Acceptance and Commitment Therapy and Positive Psychology to help teens manage emotions, achieve goals, and build connections. Oakland, CA, USA: Context Press.
  • Kahneman, D. (2011). Thinking, Fast and Slow. New York: Farrar, Straus and Giroux.
  • Suddendorf, T. (2006). Foresight and Evolution of the Human Mind. Science, 312, 1006–1007. https://doi.org/10.1126/science.1129217
  • Osvath, M., & Gärdenfors, P. (2005). Oldowan Culture and the Evolution of Anticipatory Cognition. Lund University Cognitive Studies, 122, 1–16.